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Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2301
"Lärmschwerhörigkeit"
Vom 1. Juli 2008
(GMBl. Nr. 39 vom 05.08.2008 S. 798)
Zur Übersicht in der Anlage 1 BKV
Zur Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit
I. Gefahrenquellen
Lärm und seine Beurteilung
Lärm im Sinne dieses Merkblattes ist jeder Schall (Geräusch), der das Gehör schädigen kann und der gleichmäßig als Dauerlärm oder stark schwankend oder als Impulslärm auf die Versicherten eingewirkt hat. Sehr kurze Spitzenschalldruckpegel (Dauer < 10 msec) hoher Intensität (> 137 dB (C)), die unter anderem beim Schießen und bei Explosionen oder beim Richten von Metallen mit Hammerschlägen entstehen können, sind gesondert zu betrachten, weil sich deren Schädigungsmechanismus von dem einer chronischen Lärmeinwirkung niedrigerer Intensität unterscheidet (vgl. Abschnitt II). Bei einem Tages-Lärmexpositionspegel 1 von mehr als 90 dB (A) und lang andauernder Einwirkung besteht für einen beträchtlichen Teil der Betroffenen die Gefahr einer Gehörschädigung. Gehörschäden werden auch bereits durch langjährigen Lärm verursacht, dessen Tages-Lärmexpositionspegel den Wert von 85 dB (A) erreicht oder überschreitet. Der am Arbeitsplatz dauernd oder nur kurzfristig einwirkende Lärm wird mit einem Filter (A) gemessen, der das Messgerät der Empfindungsfähigkeit des menschlichen Ohres annähert. Die so registrierten Schallpegel werden in einen für den Arbeitsplatz repräsentativen Zeitraum fortlaufend erfasst. Das Integral unter der Erfassungskurve ist der energieäquivalente Tages-Lärmexpositionspegel, der die Wirkung eines Geräusches auf das Ohr kennzeichnet. Er ist der Pegel eines für die Dauer einer achtstündigen Arbeitsschicht konstanten Geräusches oder, bei zeitlich schwankendem Pegel, der diesem gleichgesetzte Pegel. Wenn die Tages-Lärmexpositionspegel an den Tagen einer Arbeitswoche unterschiedlich sind, wird der Wochen-Expositionspegel auf eine 40-stündige Arbeitswoche bezogen.
Am Arbeitsplatz kann Lärm nach mehrjähriger Einwirkung zu Lärmschäden des Gehörs führen. Bei sehr hohen Lautstärken sind bleibende Gehörschäden auch schon nach wenigen Tagen oder Wochen möglich. Geräusche, bei denen Frequenzen über 1000 Hz vorherrschen, und schlagartige Geräusche hoher Intensität, z.B. Hammerschläge auf Metall, sind für das Gehör besonders gefährlich.
Wirken Schallereignisse auf das Ohr ein, deren Pegel oberhalb von 137 dB (C) liegen, ist innerhalb von wenigen Millisekunden eine mechanische Zerstörung der Haarzellen des Innenohres möglich (Knall- oder Explosionstraumen) (1, 2, 3).
Nach der Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch Lärm und Vibrationen 2 haben die Beschäftigten beim Überschreiten eines Tages-Lärmexpositionspegels von 85 dB (A) oder eines Spitzenschalldruckpegels von 137 dB (C) Gehörschutz zu tragen (4). Wenn Tages-Lärmexpositionspegel von 80 dB (A) oder Spitzenschalldruckpegel von 135 dB (C) überschritten werden, hat der Arbeitgeber den Beschäftigten Gehörschutz zur Verfügung zu stellen. Aus präventiven Gesichtspunkten wurden Grenzwerte für Arbeitsschutzmaßnahmen festgesetzt, bei denen nach den Erfahrungen nur noch ein sehr geringes bzw. kein nennenswertes Risiko für eine Lärmschwerhörigkeit besteht.
Arbeiten, bei denen der Tages-Lärmexpositionspegel überschritten wird, kommen in vielen Gewerbezweigen vor. Besonders vielfältig und häufig sind sie bei der Metallbearbeitung und -verarbeitung, bei Form- und Richtarbeiten mit dem Hammer, Arbeiten in Draht-, Schrauben- und Nagelfabriken, beim Gussputzen, Schleifen mit hochtourigen Werkzeugen, bei der Blechbearbeitung, bei allen Arbeiten mit Druckluftwerkzeugen, Strahlarbeiten, beim Aufbringen von Metallen im Spritzverfahren (Flammspritzen), bei manchen Schweiß- und Schneidearbeiten, insbesondere Plasmaschneiden, Arbeiten an Schmieden und Pressen, im Bergbau, bei der Erprobung und Wartung von militärtechnischem Gerät, an Motorprüfständen, im Bereich von Gasturbinen, Kompressoren und Gebläsen, bei der Holzbearbeitung (Hobelmaschinen, Sägen), in der Textilindustrie (Web- und Spinnmaschinen), an Falz- und Druckmaschinen, in der Lebensmittelindustrie (Flaschenabfüllerei, Fleischcutter); beim Gewinnen und Bearbeiten von Steinen und Baumaterial aus Ton, Kalksandstein und Beton, bei Bauarbeiten (Abbruch, Rammen, Planierraupen, Bagger und Gleisstopfmaschinen), beim Recycling von Baumaterialien, im Luftverkehr (vor allem beim Bodenpersonal), im Schiffsverkehr (Maschinenräume), in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Gartenbau, beim Betrieb lauter Arbeitsgeräte (z.B. Kettensäge, Freischneider, Rasenmäher und Häcksler) und bei Berufsmusikern. Der Betrieb von sehr lauten Werkzeugen (z.B. Kettensäge, Schlagbohrer) kann zu einem Tages-Expositionspegel > 90 dB (A) führen, auch wenn die Arbeiten damit nur einen relativ geringen Zeitanteil an der Arbeitszeit haben. Allein der 15-minütige Betrieb einer Kettensäge mit einem Lärmpegel von 105 dB (A) führt zu einem Tages-Expositionspegel von 90 dB (A). Weil es in sehr vielen Arbeitsbereichen kurzfristig hohe Lärmpegel und auch Spitzenpegel von > 137 dB (C) geben kann, kommt der sorgfältigen Arbeitsanamnese für die Beurteilung der Lärmbelastung große Bedeutung zu.
Schallereignisse mit Intensitäten oberhalb von 137 dB (C) entstehen z.B. beim Abfeuern von Handfeuerwaffen, Gewehren und militärischen Geschossen, beim Abfeuern von Feuerwerk und Böllern und beim Zünden des Airbags, bei Richtarbeiten an Stahlkonstruktionen mit Vorschlaghämmern. Auch bei Musikaufführungen können im Orchester oder auf der Bühne Schallereignisse mit hohen Intensitäten auftreten. Diese Belastungen kommen vor bei Büchsenmachern und Waffenmeistern, insbesondere beim Einschießen von Gewehren oder militärtechnischem Gerät, Schießausbildern, sowie beim Sprengen, bei Stahlbaumonteuren und bei anderen Tätigkeiten in der Metallindustrie, in denen Metallkonstruktionen und -bleche mechanisch durch Hammerschläge gerichtet oder bearbeitet werden müssen, und bei Berufsmusikern.
II. Pathophysiologie
Die Schallwellen gelangen durch Luftleitung über den Gehörgang und - in schwächerem Maße - als Körperschall über die Schädelknochen zum Innenohr. Sie führen dort zunächst zu einer Ermüdung der Sinneszellen der unteren Schneckenwindung im Sinne einer reversiblen Vertäubung und einer vorübergehenden Schwellenabwanderung im Tonaudiogramm. In dieser Phase können sich die Sinneszellen durch eine ausreichend lange Lärmpause (> 14 h) vollständig erholen (Kompensationsphase). Wenn die Erholungsmöglichkeit durch Lärmpausen von entsprechender Dauer nicht mehr gegeben ist, kommt es zu einem Dauerschaden durch Stoffwechselerschöpfung und nachfolgenden Zelltod. Die abgestorbenen Haarzellen können nicht neu gebildet werden, die einmal eingetretene Lärmschwerhörigkeit ist deshalb auch nicht heilbar. Das Ausmaß des Lärmschadens nimmt mit der Dauer der Lärmexposition und mit der Lärmintensität zu. Nach etwa 15-20 Jahren wird infolge des Untergangs aller durch Lärm zerstörbaren Zellen eine "Sättigungsphase" erreicht. Nach beendeter Lärmexposition schreitet die lärmbedingte Schädigung des Innenohres durch Lärm nicht mehr weiter fort.
Der Stapediusreflex führt zu einer gewissen Versteifung der Gehörknöchelchenkette und damit zu einer Verschlechterung der Ankopplung des Trommelfells an das Innenohr. Dieser stellt bei Dauerlärm mit tieffrequenten Anteilen für nur kurze Zeit (< 10 min) einen zwar wirksamen aber keinesfalls ausreichenden Schutzmechanismus für das Innenohr dar. Da die Muskelanspannung, die zu der Versteifung führt, erst mit einer gewissen Verzögerung eintritt und nach kurzer Zeit ohne Lärmeinwirkung (< 1 s) wieder abfällt, kann dieser eingeschränkte Schutz bei Impulslärm nicht wirksam werden (5).
Schallereignisse mit einer Intensität von mehr als 137 dB (C) können zu direkten mechanischen Schäden des Innenohrs führen (2, 3). Ob und wie durch die gleichzeitige Einwirkung von Lärm und ototoxischen Substanzen eine Wirkungsverstärkung eintritt, ist pathophysiologisch für den Menschen im Detail nicht geklärt (6).
III. Krankheitsbild und Diagnose
Die Lärmschwerhörigkeit ist eine Schallempfindungsschwerhörigkeit vom Haarzelltyp, d. h. eine Innenohrschwerhörigkeit, und keine Schallleitungsstörung. Zunächst ist die Wahrnehmung der höheren, später erst die der mittleren und_ evt. der tieferen Töne beeinträchtigt. Bei der Lärmschwerhörigkeit besteht eine große Differenz zwischen den Hörweiten für Umgangs- und Flüstersprache. Im Tonaudiogramm stimmen die Hörschwellenkurven für Luft- und für Knochenleitung in den messtechnisch bedingten Grenzen überein. Die chronische Schwerhörigkeit durch Lärm tritt immer doppelseitig auf, sie muss aber nicht streng symmetrisch ausgebildet sein; Seitendifferenzen mahnen allerdings zu kritischer Klärung und Beurteilung (7). Sie sind bei extrem einseitiger Beschallung möglich. Subjektive Ohrgeräusche (Tinnitus) werden verhältnismäßig häufig angegeben, sind aber nicht spezifisch für eine Schwerhörigkeit durch Lärm. Gleichgewichtsstörungen gehören nicht zum Krankheitsbild. Eine vollständige Ertaubung durch Lärmeinwirkung gibt es nicht (7).
Schon die beginnende Gehörschädigung durch Lärm kann mittels Tonaudiogramm durch typischen pathognomonischen Hörverlust im Frequenzbereich um 4000 Hz (sog. c5-Senke) festgestellt werden. Auch später ist noch für längere Zeit ein Überwiegen der Hochtonstörung feststellbar, aus der Hochtonsenke kann ein Hochtonabfall werden. Der Hauptsprachbereich (500-2 000 Hz) wird erst spät beeinträchtigt.
Ein Lautheitsausgleich (Recruitment), möglichst durch mehrere überschwellige Prüfmethoden bestätigt, spricht für eine Schädigung der Sinneszellen des Corti-Organs durch Lärm.
Differentialdiagnostisch ist eine Schallleitungs-(Mittelohr-)Schwerhörigkeit leicht auszuschließen (u. a. im Tonaudiogramm in nicht nur einer Frequenz mehr als 10 dB Differenz zwischen Luft- und Knochenleitung); weitere Hinweise auf die Möglichkeit einer gestörten Schallleitung sind morphologische Veränderungen und Bewegungseinschränkungen der Trommelfelle, eine behinderte Tubendurchgängigkeit oder eine Fixation der Gehörknöchelchen-kette. Schwieriger gestaltet sich der Ausschluss von beidseitigen Schallempfindungsstörungen anderer Ursachen. Neben dem Recruitment ist vor allem die Form des Tonaudiogramms von Bedeutung. Nur der basocochleäre Typ spricht für Schwerhörigkeit durch Lärm, während mediocochleäre Typen für eine andere Lokalisation im Schneckenwindungssystem entweder im Sinne einer erblichen oder einer Hörnervenschwerhörigkeit sprechen, pancochleäre Formen deuten eher auf eine lärmfremde Ursache hin, z.B. auf eine weit fortgeschrittene Meniere'sche Krankheit.
Diagnostische Verfahren zur sicheren Differenzierung zwischen einer physikalischen und chemischen Verursachung existieren nach dem derzeitigen Kenntnisstand nicht (6). Eine konstitutionelle degenerative Innenohrschwerhörigkeit muss nicht immer erkennbar erblich sein; sie ist häufig erheblich seitendifferent, ihr Beginn ist vielfach schon auf die Zeit vor der Lärmexposition zurückzuverfolgen. Auch muss man bei einem auffälligen Missverhältnis zwischen Schwere der Hörstörung und Dauer und/oder Intensität der Lärmexposition an degenerative Prozesse, z.B. auch in ursächlichem Zusammenhang mit einer cerebrovaskulären Erkrankung, denken. Auch ein Durchblutungsmangel des Innenohrs, z.B. infolge einer vertebragenen Störung der Halswirbelsäule ist zu beachten.
IV. Weitere Hinweise
Zur Anzeigepflicht: Der Verdacht auf eine anzeigepflichtige Lärmschwerhörigkeit ist begründet, wenn Versicherte eine Reihe von Jahren unter Lärmbedingungen gearbeitet haben oder wenn sie kurzzeitig besonders hohen, intensiven Lärmbelastungen (siehe Abschnitt "Gefährdende Tätigkeiten") ausgesetzt waren und die messbare Hörfunktionsstörung dem Bilde einer lärmbedingten Innenohrschwerhörigkeit entspricht. Ein bestimmtes Ausmaß der Hörminderungen ist nicht Voraussetzung für die Verdachtsanzeige. Der Versicherungsfall ist eingetreten und als Berufskrankheit anzuzeigen und dann ggf. anzuerkennen, wenn eine lärmbedingte Hörstörung messbar ist, auch ohne dass eine MdE vorliegt.
Auch bei akustischen Traumen im Sinne von Knalltraumen oder bei anderen Schallereignissen hoher Intensität (> 137 dB (C)) soll eine Berufskrankheiten-Verdachtsanzeige erstattet werden. Der Unfallversicherungsträger wird dann ggf. zunächst prüfen, ob es sich unter versicherungsrechtlichen Aspekten um einen Arbeitsunfall oder um eine Berufskrankheit handelt.
V. Literatur
1. Feldmann, Harald, unter Mitarbeit von:
J. Alberty, T. Brusis, T. Deitmer, K.W. Delank, S. Hartmann, K.-B. Hüttenbrink, W. Stoll
Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohren-Arztes 6. überarbeitete und aktualisierte Auflage Thieme Verlag, Stuttgart (2006) S. 163 ff.
2. Fleischer, G. Müller, R.: On the relation between exposure to sound and auditory performance, In: Proceedings of SAE Conference an Sound and Vibration Michigan 16. - 19.5.2005, ISBN 0-7680-1657-6
3. Spoendlin, H.: Akustisches Trauma in: Berendes et al. (Hrsgg.) Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in Praxis und Klinik, Band 6, Kap. 42 S. 8
Georg Thieme Verlag Stuttgart New York (1980)
4. Verordnung zum Schutz der Beschäftigten vor Gefährdungen durch Lärm und Vibrationen, BGBl. I S. 261 (2007)
5. Dieroff, Hans-Georg, unter Mitarbeit von
C. Beck, T. Deitmer, H. Feldmann, G. Fuder, H. Ising, H. Lazarus, P.K. Plinkert, M. Pilgramm, M. Spreng, H. P. Zenner
Lärmschwerhörigkeit
3. völlig überarbeitete und erweiterte Auflage Gustav Fischer Verlag, Jena, Stuttgart 1994, S. 80 ff.
6. Berufsgenossenschaftliche Zentrale für Sicherheit und Gesundheit BGZ: Ototoxizität - eine Herausforderung bei der Prävention von Gehörschäden?
Hennef 4.-5.7.2006 (http.//www.dguv.de)
7. Brusis, T.:
Die berufliche Lärmschwerhörigkeit - Diagnose, Differentialdiagnose und Begutachtung
Trauma und Berufskrankheit, 8, 65-72 (2006)
8. Maue, J. H.:
Bestimmen der Lärmexposition an Arbeitsplätzen - Messtrategien und Messunsicherheit - Sicherheitsingenieur 5/2006, S. 12-17
(red. Anm.: vgl. BGI - Berufsgenossenschaftliche Information für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit)
Zur Übersicht in der Anlage 1 BKV
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