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ILO

Übereinkommen 131 Übereinkommen über die Festsetzung von Mindestlöhnen, besonders unter Berücksichtigung der Entwicklungsländer
1970

Vom 29.04.1972
(ILO - International Labour Organization)



Dieses Übereinkommen ist am 29. April 1972 in Kraft getreten.

Ort: Genf

Tagung: 54

Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation,

die vom Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes nach Genf einberufen wurde und am 3. Juni 1970 zu ihrer vierundfünfzigsten Tagung zusammengetreten ist,

nimmt Kenntnis von den Bestimmungen des Übereinkommens über Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen, 1928, und des Übereinkommens über die Gleichheit des Entgelts, 1951, die von vielen Staaten ratifiziert worden sind, sowie des Übereinkommens über die Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen (Landwirtschaft), 1951;

stellt fest, daß diese Übereinkommen eine wertvolle Rolle im Hinblick auf den Schutz benachteiligter Gruppen von Lohnempfängern gespielt haben;

ist der Ansicht, daß es an der Zeit ist, eine weitere Urkunde anzunehmen, die diese Übereinkommen ergänzt und den Lohnempfängern Schutz gegen unangemessen niedrige Löhne gewährt und die, obgleich allgemein anwendbar, die Bedürfnisse der Entwicklungsländer besonders berücksichtigt;

hat beschlossen, verschiedene Anträge anzunehmen betreffend Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen und damit zusammenhängende Probleme, unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklungsländer, eine Frage, die den fünften Gegenstand ihrer Tagesordnung bildet, und

dabei bestimmt, daß diese Anträge die Form eines internationalen Übereinkommens erhalten sollen.

Die Konferenz nimmt heute, am 22. Juni 1970, das folgende Übereinkommen an, das als Übereinkommen über die Festsetzung von Mindestlöhnen, 1970, bezeichnet wird.

Artikel 1

  1. Jedes Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation, das dieses Übereinkommen ratifiziert, verpflichtet sich, ein Mindestlohnsystem einzuführen, das alle Gruppen von Lohnempfängern erfaßt, deren Beschäftigungsbedingungen eine solche Erfassung als angebracht erscheinen lassen.
  2. Die zuständige Stelle in jedem Land hat im Einvernehmen oder nach umfassender Beratung mit den maßgebenden beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden, soweit solche bestehen, die zu erfassenden Gruppen von Lohnempfängern zu bestimmen.
  3. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, hat in seinem ersten Bericht, den es nach Artikel 22 der Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation über die Durchführung des Übereinkommens vorzulegen hat, die Gruppen von Lohnempfängern anzugeben, die auf Grund dieses Artikels nicht erfaßt worden sind; dabei hat es die Gründe für ihre Nichterfassung anzuführen und in seinen späteren Berichten den Stand seiner Gesetzgebung und Praxis hinsichtlich der nicht erfaßten Gruppen anzugeben und mitzuteilen, in welchem Umfang dem Übereinkommen in bezug auf diese Gruppen entsprochen wurde oder entsprochen werden soll.

Artikel 2

  1. Mindestlöhne haben Gesetzeskraft und dürfen nicht unterschritten werden; ihre Nichteinhaltung hat angemessene strafrechtliche oder sonstige Zwangsmaßnahmen gegen die beteiligte Person oder die beteiligten Personen zur Folge.
  2. Unter Vorbehalt der Bestimmungen von Absatz 1 dieses Artikels ist die Freiheit der Kollektivverhandlungen in vollem Maße zu wahren.

Artikel 3

Bei der Bestimmung der Höhe der Mindestlöhne sind, soweit dies im Hinblick auf die innerstaatlichen Gepflogenheiten und Verhältnisse möglich und angebracht ist, unter anderem zu beachten:

  1. die Bedürfnisse der Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen unter Berücksichtigung der allgemeinen Höhe der Löhne in dem betreffenden Land, der Lebenshaltungskosten, der Leistungen der Sozialen Sicherheit und des vergleichbaren Standes der Lebenshaltung anderer sozialer Gruppen;
  2. wirtschaftliche Gegebenheiten, einschließlich der Erfordernisse der wirtschaftlichen Entwicklung, der Produktivität und des Interesses daran, einen hohen Beschäftigungsstand zu erreichen und aufrechtzuerhalten.

Artikel 4

  1. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert, hat den innerstaatlichen Verhältnissen und Erfordernissen angepaßte Verfahren einzuführen und beizubehalten, die es ermöglichen, für die gemäß Artikel 1 erfaßten Gruppen von Lohnempfängern Mindestlöhne festzusetzen und von Zeit zu Zeit anzupassen.
  2. Im Zusammenhang mit der Einführung, Anwendung und Abänderung solcher Verfahren sind umfassende Beratungen mit den maßgebenden beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden oder, falls keine solchen Verbände bestehen, mit Vertretern der beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorzusehen.
  3. Sofern es auf Grund der Art der Verfahren zur Festsetzung von Mindestlöhnen zweckmäßig ist, ist bei ihrer Anwendung auch die unmittelbare Beteiligung folgender Personen vorzusehen:
    1. Vertreter der beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände oder, falls keine solchen Verbände bestehen, Vertreter der beteiligten Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf der Grundlage der Gleichberechtigung;
    2. Personen, deren Befähigung zur Vertretung der allgemeinen Interessen des Landes anerkannt ist und die nach umfassender Beratung mit den maßgebenden beteiligten Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden bestellt worden sind, soweit solche Verbände bestehen und eine solche Beratung der innerstaatlichen Gesetzgebung oder Praxis entspricht.

Artikel 5

Um die wirksame Durchführung aller Bestimmungen über die Mindestlöhne zu gewährleisten, sind geeignete Maßnahmen zu treffen, zum Beispiel durch die Errichtung eines angemessenen, durch andere erforderliche Maßnahmen verstärkten Aufsichtssystems.

Artikel 6

Dieses Übereinkommen gilt nicht als Neufassung irgendeines bestehenden Übereinkommens.

Artikel 7

Die förmlichen Ratifikationen dieses Übereinkommens sind dem Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes zur Eintragung mitzuteilen.

Artikel 8

  1. Dieses Übereinkommen bindet nur diejenigen Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation, deren Ratifikation durch den Generaldirektor eingetragen ist.
  2. Es tritt in Kraft zwölf Monate nachdem die Ratifikationen zweier Mitglieder durch den Generaldirektor eingetragen worden sind.
  3. In der Folge tritt dieses Übereinkommen für jedes Mitglied zwölf Monate nach der Eintragung seiner Ratifikation in Kraft.

Artikel 9

  1. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat, kann es nach Ablauf von zehn Jahren, gerechnet von dem Tag, an dem es zum erstenmal in Kraft getreten ist, durch Anzeige an den Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes kündigen. Die Kündigung wird von diesem eingetragen. Ihre Wirkung tritt erst ein Jahr nach der Eintragung ein.
  2. Jedes Mitglied, das dieses Übereinkommen ratifiziert hat und innerhalb eines Jahres nach Ablauf des im vorigen Absatz genannten Zeitraumes von zehn Jahren von dem in diesem Artikel vorgesehenen Kündigungsrecht keinen Gebrauch macht, bleibt für einen weiteren Zeitraum von zehn Jahren gebunden. In der Folge kann es dieses Übereinkommen jeweils nach Ablauf eines Zeitraumes von zehn Jahren nach Maßgabe dieses Artikels kündigen.

Artikel 10

  1. Der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes gibt allen Mitgliedern der Internationalen Arbeitsorganisation Kenntnis von der Eintragung aller Ratifikationen und Kündigungen, die ihm von den Mitgliedern der Organisation mitgeteilt werden.
  2. Der Generaldirektor wird die Mitglieder der Organisation, wenn er ihnen von der Eintragung der zweiten Ratifikation, die ihm mitgeteilt wird, Kenntnis gibt, auf den Zeitpunkt aufmerksam machen, in dem dieses Übereinkommen in Kraft tritt.

Artikel 11

Der Generaldirektor des Internationalen Arbeitsamtes übermittelt dem Generalsekretär der Vereinten Nationen zwecks Eintragung nach Artikel 102 der Charta der Vereinten Nationen vollständige Auskünfte über alle von ihm nach Maßgabe der vorausgehenden Artikel eingetragenen Ratifikationen und Kündigungen.

Artikel 12

Der Verwaltungsrat des Internationalen Arbeitsamtes hat, sooft er es für nötig erachtet, der Allgemeinen Konferenz einen Bericht über die Durchführung dieses Übereinkommens zu erstatten und zu prüfen, ob die Frage seiner gänzlichen oder teilweisen Abänderung auf die Tagesordnung der Konferenz gesetzt werden soll.

Artikel 13

  1. Nimmt die Konferenz ein neues Übereinkommen an, welches das vorliegende Übereinkommen ganz oder teilweise abändert, und sieht das neue Übereinkommen nichts anderes vor, so gelten folgende Bestimmungen:
    1. Die Ratifikation des neugefaßten Übereinkommens durch ein Mitglied schließt ohne weiteres die sofortige Kündigung des vorliegenden Übereinkommens in sich ohne Rücksicht auf Artikel 9, vorausgesetzt, daß das neugefaßte Übereinkommen in Kraft getreten ist.
    2. Vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des neugefaßten Übereinkommens an kann das vorliegende Übereinkommen von den Mitgliedern nicht mehr ratifiziert werden.
  2. Indessen bleibt das vorliegende Übereinkommen nach Form und Inhalt jedenfalls in Kraft für die Mitglieder, die dieses, aber nicht das neugefaßte Übereinkommen ratifiziert haben.

Artikel 14

Der französische und der englische Wortlaut dieses Übereinkommens sind in gleicher Weise maßgebend.

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