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Bewertungskonzept zum Nahtransport von Pflanzenschutzmitteln infolge Exposition über den Luftpfad
(Abtrift, Verflüchtigung und Deposition)
Vom 25. Juli 2002
(Bundesanzeiger Nr. 144 vom 06.08.2002 S. 18352)
1 Einleitung
Gemäß der Richtlinie 91/414/EWG ist zu bewerten, ob die infolge der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln (PSM) in die Atmosphäre eingetragenen Rückstände unvertretbare Auswirkungen auf die Umwelt haben. Dazu sind die Verflüchtigungsrate, Luftkonzentration, Deposition und abiotische Abbaubar alt zu quantifizieren. Die Richtlinie der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft (BBA) Teil IV, 6 - 1 wird diesen Anforderungen nicht in vollem Umfang gerecht, da insbesondere der Nahtransport nicht berücksichtigt wird.
Die Berücksichtigung der Abtrift ist im Gegensatz zur Verflüchtigung seit Jahren fester Bestandteil der Bewertung der PSM-Exposition aquatischer und terrestrischer Ökosysteme über den Luftpfad. Grundlagen der Quantifizierung der Deposition von PSM Infolge Abtrift sind ein auf experimentellen Untersuchungen basierendes Abtriftmodell (Ganzelmeier u. a., 1995) sowie die zwischenzeitlich aktualisierten Abtrifteckwerte (Kohsiek, 2000; Nolting, 2001).
Neuere Untersuchungen zeigen aber, dass bei (semi) volatilen Wirkstoffen verflüchtigungsbedingte Depositionen auf den an Behandlungsflächen anrainenden Arealen auftreten können, die teilweise zu Belastungen führen, die in der Größenordnung der Abtrift liegen (Kördel u. a., 1998; Siebers u. a., 2002). Bei alleiniger Beachtung der Abtrift kann das aus der Anwendung bestimmter PSM resultierende Risiko für den Naturhaushalt somit unterschätzt werden. Dies ist beim gegenwärtigen Kenntnisstand insbesondere bei PSM-Wirkstoffen mit einem Dampfdruck >10-6 PA (bei 20 °C) der Fall, so dass deren Verflüchtigungspotenzial bei Expositionsabschätzungen berücksichtigt werden muss.
Für das Ausmaß der Verflüchtigung sind neben den physikalisch-chemischen Wirkstoffeigenschaften, der Art der Formulierung und der Aufwandmenge vor allem meteorologische Einflussfaktoren (Temperatur, Windgeschwindigkeit, Luftfeuchtigkeit etc.), die Charakteristik der Zielfläche (Bodeneigenschaften, Pflanzenart) sowie die Größe der behandelten Fläche ausschlaggebend. Die Verflüchtigung erfolgt im Wesentlichen im Zeitraum der ersten 24 Stunden nach der Applikation , sie kann jedoch - insbesondere vom Boden - auch über längere Zeiträume bis hin zu mehreren Wochen stattfinden (siehe z.B. in: Jury u. a., 1984; Ross u. a., 1990; Taylor u. Spencer, 1990; Woodrow u. a., 1997). Die dabei gebildeten gasförmigen und an Aerosolen gebundenen Anteile werden mit der Luft verfrachtet, dabei verdünnt und gegebenenfalls abgebaut (z.B. durch direkte Photolyse, photochemisch-oxidative Prozesse oder Hydrolyse).
Für die Bewertung der Abtrift spielt die Applikationstechnik (konventionelle oder abtriftmindernde Technik) eine entscheidende Rolle. Dagegen wird beim gegenwärtigen Erkenntnisstand davon ausgegangen, dass die Applikationstechnik keinen signifikanten Einfluss auf die Verflüchtigung hat.
2 Gesamtdeposition
Ausgangsgröße für die Bewertung des aus der Mittelanwendung resultierenden Risikos für aquatische und terrestrische Biozönosen ist die Deposition auf der Nichtzielfläche, .die sich als Superposition aus Abtrift und Verflüchtigung ergibt.
Soweit experimentelle Daten nicht verfügbar sind, wird die zu erwartende Gesamtdeposition für Oberflächengewässer und terrestrische Nichtzielflächen in erster Näherung zunächst rechnerisch durch Einsatz des Modells "EVA 1.1" (Exposure Via Air) ermittelt. Eingang finden hierbei die folgenden Parameter:
Grundsätzlich wird die als Bewertungsgrundlage dienende Konzentration (PEG; Predicted Environmental Concentration) in Abhängigkeit von der Entfernung zur Zielfläche berechnet durch Summation der abtriftbedingten Initialkonzentration unmittelbar nach der Applikation und der Konzentration; die sich aus der über ein Zeitfenster von 24 Stunden nach Applikation zeitlich gewichteten Luftkonzentration via Verflüchtigung ergibt:
PEC gesamt deponiert = PEG Abtrift initial deponiert + PEC deponiert aus 24 h Verflüchtigung
Dabei kann die verflüchtigungsbedingte Luftkonzentration im o. g. Zeitraum über der Zielfläche durch Deposition und Abbau vermindert werden.
Das Modell wird kontinuierlich dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand angepasst.
Zum Nachweis, inwiefern die Verflüchtigung im konkreten Fall bewertungsrelevant ist, bzw. zur Verfeinerung der Expositionsabschätzung kann es erforderlich werden, die Resultate der Modellrechnungen durch experimentelle Untersuchungen im Freiland zu überprüfen und gegebenenfalls durch deren Ergebnisse zu ersetzen.
Das Modell, die dazugehörige Dokumentation sowie die Empfehlungen zur experimentellen Bestimmung der verflüchtigungsbedingten Deposition von Pflanzenschutzmittel-Wirkstoffen auf Nichtzielflächen sind auf der Internetseite der Zulassungsbehörde frei verfügbar (http://www.bba.de unter "Pflanzenschutz/pflanzenschutzmittel"). Das Bewertungskonzept wird einschließlich des Modells, der genannten Empfehlungen sowie von Aussagen zum Validierungsstatus des Konzeptes außerdem in den "Berichten aus der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft" veröffentlicht.
3 Ökotoxikologische Bewertung
Die sich aus der Abtrift und Verflüchtigung ergebende Gesamtexposition ist für (semi) volatile PSM-Wirkstoffe der Endpunkt, mit dem als Ausgangsgröße die Bewertung für Oberflächengewässer und terrestrische Nichtzielflächen i. d. R. durchzuführen ist. Dazu ist die Gesamtdeposition mit den in ökotoxikologischen Tests ermittelten Wirkkonzentrationen zur Ableitung von TER-Werten (Toxicity/Exposure-Ratio) zu korrelieren.
DA bei der Berechnung der Gesamtdeposition kein Substanzabbau im Zeitfenster von 24 Stunden berücksichtigt wird, ist zu beachten, dass eine unrealistisch hohe Konzentration für Gewässer oder terrestrische Nichtzielflächen durch Summation der deponierten Anteile aus Abtrift und Verflüchtigung resultierenden PEC-Werte (PEC gesamt deponiert = PEG Abtrift initial deponiert + PEC deponiert aus 24 h Verflüchtigung ) in den Fällen errechnet wird, wenn die Wirkstoffe einem sehr schnellen Abbau unterliegen. Realitätsnaher ist hier die weitere alleinige Verrechnung des PEG Abtrift initial deponiert Wertes. Das ist auch der Fall, wenn schwerwiegende Wirkungen auf Nichtzielarten bereits unmittelbar nach der Exposition auftreten.
Für eine realistische Einschätzung dahingehend, ob die Addition von PEC Abtrift initial deponiert-Wert und PEC deponiert aus 24 h Verflüchtigung -Wert sinnvoll ist oder nicht, ist daher im Einzelfall eine Expertenentscheidung unter Berücksichtigung der vorliegenden Abbaudaten sowie des ökotoxikologischen Wirkprofils des PSM notwendig, wobei die konkreten Testbedingungen (statisch, dynamisch) und die Effektentwicklung nach Exposition zu berücksichtigen sind.
Bei Mehrfachanwendungen wird derzeit nur ein Verflüchtigungsereignis berücksichtigt, das i. d. R. der letzten Mittelanwendung folgt, da sonst unrealistisch hohe Konzentrationen errechnet werden. Auf Grund der vielfältigen Einflussfaktoren auf die Verflüchtigung ist die fortgesetzte Kombination ungünstiger Bedingungen gemäß den Modellannahmen mit jeder Anwendung nicht genügend realitätsnah ("absolute worst case"). Auch kann bei der Verflüchtigung - im Gegensatz zur Abtrift (abnehmende Abtrifteckwerte mit zunehmender Applikationsanzahl) - noch nicht die Kontaminationswahrscheinlichkeit bei der Berechnung der PEC-Werte berücksichtigt werden.
4. Literatur
Jury, W. A., W. F., Spencer, W. J. Farmer, 1984: Behaviour assessment model for trace organics in soil: IV. Review of experimental evidence. J. Environ. Qual. 13 (4), 580-586
Kohsiek, 2000: Bekanntmachung über die Abtrifteckwerte, die bei der Prüfung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln herangezogen werden. Vom 8. Mai 2000. Bundesanzeiger Nr. 100, 26. Mai 2000, S. 9879-9880
Kördel, W., H. Klöppel, 1998: Exposition von naturnahen Ökosystemen durch luftgetragene Pflanzenschutzmittel. Forschungsvorhaben des Umweltbundesamtes, FKZ: 126 05 110, Mai 1998
Nolting, 2001: Dritte Bekanntmachung über die Abtrifteckwerte, die bei der Prüfung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln herangezogen werden. Vom 15. Juli 2001. Bundesanzeiger Nr. 155, 21. August 2001, S. 18 177-18 178
Ross, L. J., S. Nicosia, M. M. McChesney, K. L. Hefner, D. A. Gonzalez, J. N. Seiber, 1990: Volatilization, off-site deposition, and dissipation of DCPA in the field. J. Environ. Qual. 19, 715-722
Siebers, J., R. Binner, K.-P. Wittich, 2002: Investigation on downwind short-range transport of pesticides after application in agricultural crops. Chemosphere, eingereicht 27. März 2002
Taylor, A. W., W. F. Spencer, 1990: Volatilization and vapor transport processes. In: Pesticides in the soil environment, Soil Science Society of America, 677 S. Segoe Rd., Madison, WI 53711, ,USA, SSSA Book Series No. 2, Chapter 7
Woodrow, J. E., J. N. Seiber, 1997: Gorrelating techniques for estimating pesticide volatilization flux and downwind concentrations. Environ. Sci. Technol. 31, 5213-529
Bekanntmachung des Bewertungskonzepts zum
Nahtransport von Pflanzenschutzmitteln infolge Exposition über den Luftpfad
(Abtrift, Verflüchtigung und Deposition)
Im Rahmen der Prüfung und Zulassung von Pflanzenschutzmitteln nach § 15 des Pflanzenschutzgesetzes vom 14, Mai 1996 (BGBl. I S. 971, 1527, 3512), der zuletzt durch Artikel 4 Nr. 2 des Gesetzes vom 20. Juni 2002 (BGBl. I S. 2076) geändert worden ist, wird zur Bewertung der relevanten Eintragspfade aber die Luft das in der Anlage aufgeführte Bewertungskonzept zum Nahtransport von Pflanzenschutzmitteln infolge Exposition über den Luftpfad (Abtrift, Verflüchtigung und Deposition) zu Grunde gelegt.
Braunschweig, den 25. Juli 2002
Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft
ENDE