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29. N-Methyl-2,4,6,N-tetranitroanilin (Tetryl)
(CAS-Nr.: 479-45-8)
(BArbBl. 11/97 S. 61)
Es wurden neben der Originalliteratur Daten aus zusammenfassenden Darstellungen zur Toxizität von N-Methyl-2,4,6,N-tetranitroanilin (ATSDR, 1995a; Greim, 1995) herangezogen. Zusätzlich wurden Recherchen in der Datenbank NLM (1995, 1996) durchgeführt.
Stoffidentität und -eigenschaften:
Bezeichnung: | N-Methyl-N,2,4.6-tetranitrobenzolamin N-Methyl-2,4,6-N-tetranitroanilin 2,4,6-Trinitrophenyl-N-methylnitramin N-Pikryl-N-methyl-nitramin Methylpikrylnitramin Nitramin Tetralit Tetryl |
Im folgenden wird die Bezeichnung Tetryl verwendet.
CAS-Nummer: 479-45-8
Summenformel: C7H5N5O8
Kanzerogenität:
In der einzigen bekannten tierexperimentellen Studie (Griswold et al., 1968) erhielten 20 weibliche Sprague-Dawley Ratten für 30 Tage jeden dritten Tag 40 mg Tetryl per Schlundsonde (in Öl, Gesamtdosis: 400 mg), mitgeführte Kontrollen erhielten nur Lösemittel (Sesamöl).
Ohne nähere Erläuterungen wird berichtet, daß diese Dosis einer MTD entsprach. Die Tiere wurden über einen Zeitraum von 9 Monaten beobachtet. In der Kontrollgruppe aus 132 Tieren wurden bei 5 Tieren z.T. mehrfache Veränderungen der Mamma festgestellt, und zwar Hyperplasien (5), Fibroadenome (1) und Karzinome (3). In der Tetrylgruppe wies 1 von 19 untersuchten Tieren eine Hyperplasie der Mamma auf, nur in dieser Gruppe wurde außerdem bei einem Tier ein Magenadenom beobachtet.
In einer Untersuchung wird von 2 Arbeitern eines Betriebs berichtet, die bei der Produktion 1 - 4 Jahre gegenüber Tetrylstaub exponiert waren und 3 - 5 Jahre später an Leberversagen verstarben. Dabei wurde in einem Fall neben einer Leberzirrhose bei der Autopsie ein Hepatom festgestellt. Hinweise auf überhöhten Alkoholgenuß fanden sich nicht (ATSDR, 1995a).
Weitere Befunde liegen nicht vor.
Mutagenität/Gentoxizität:
In vitro (Tabelle 1) erwies sich Tetryl an den S. typhimurium Stämmen TA 100 und TA 98 in allen Untersuchungen übereinstimmend als mutagen, während bei den anderen Stämmen sowohl negative als auch positive Resultate festgestellt wurden. Im Test auf DNA Schädigung und -Reparatur an E.coli-Stämmen wirkte Tetryl auf beide Stämme gleichermaßen toxisch. An Eukaryoten (Hefen und anderen Pilzen) erzeugte Tetryl Rekombinationen, mitotische Genkonversionen und Basenpaar-Substitutionen. In allen Untersuchungen mit S9-Mix (aus Arochlor induzierter Rattenleber) war die gentoxische Wirkung deutlich schwächer als ohne S9-Mix.
In einer Untersuchung der Mutagenität von l02 Nitroaromaten und -aliphaten an S. typhimurium TA 100 und TA 98 (Kawai et al., 1987) wurde bei 15 Substanzen, darunter Tetryl, eine Mutationsrate von über 10.000 rev/mg beobachtet, in TA 100 waren nur wenige Substanzen (2,4-Dinitrophenylthiocyanat; p-Nitrobenzylchlorid; 2,4-Dinitrofluorbenzol; 3,5-Dinitroanilin; 2,3-Dinitrophenol; Tetranitromethan) noch stärker mutagen als Tetryl.
In vivo Befunde an Menschen oder aus Tierversuchen liegen nicht vor.
Tabelle 1: Gentoxizität von Tetryl in vitro
Testsystem | Endpunkt | Ergebnis | Referenz | |
-S9 | +S9 | |||
S. typhimurium TA1535 TA1537 TA1538 TA100 TA98 | Genmutation | - ++ ++ ++ + | - ++ + + (+) | McGregor et al., 1980 |
TA1535 TA98 TA1537/1538/98 | ++ + - | n.u. (+) - | Whong et al., 1980 | |
TA98 TA100 | ++ ++ | ++ ++ | Kawai et al., 1987 | |
TA98 TA100 | ++ ++ | + + | Tan et al.. 1992 | |
E. coli pol A+/pol A- | DNA-Schäd./Rep. | - | - | McGregor et al., 1980 |
S. cerevisiae D5 | Mitot. Rekombin. | + | - | McGregor et al., 1980 |
S. cerevisiae D4 | Mitot. Genkonvers. | ++ | - | Whong et al., 1980 |
Neurospora crassa N23 12-9-17 | Genmutation | ++ - | n.u. n.u. | Whong et al., 1980 |
(+): schwachpositiv (weniger als 2fach gegenüber der Kontrolle erhöht); n.u.: nicht untersucht |
Reproduktions- und Entwicklungstoxizität:
In einer Untersuchung (Hardy und Maloof, 1950) wird angeführt, daß bei 2 Arbeiterinnen einer Sprengstoffabrik, in der Tetryl verarbeitet wurde, eine Verlängerung des Menstruationszyklus und Amenorrhoe auftraten; in einer anderen Untersuchung (Cripps, 1917) wurde dagegen über verkürzte Menstruationsintervalle und verlängerte Regelblutungen berichtet. Weitere Angaben und Untersuchungen liegen nicht vor.
Sensibilisierung:
Befunde am Menschen:
In einer Reihe von Veröffentlichungen wurden Kontaktekzeme bei Tetrylexposition beschrieben. Meist handelt es sich dabei um Untersuchungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der über derartige Effekte zusammenfassend berichtet wird (Bergman, 1952; Schwartz, 1944; Probst et al., 1944; Eddy, 1943; Fischer und Murdock, 1946). Danach trat bei bis zu 50 % der Beschäftigten in Munitionsfabriken mit Tetrylexposition zu Beginn eine Kontaktdermatitis auf (Schwartz, 1944).
In verschiedenen Studien wird darauf hingewiesen, daß die Betroffenen meist innerhalb einiger Wochen eine Toleranz gegen weitere Tetrylexposition entwickeln (Schwartz, 1944; Fischer und Murdock. 1946). Daneben waren aber immer wieder Fälle zu beobachten, die für eine Sensibilisierung sprechen. Genaue Angaben zur Frequenz allergischer Reaktionen liegen nicht vor. Gell (1944) führt an, daß Tetryl nicht direkt hautreizend wirke, jedoch eine sensibilisierende Potenz aufweise, die wesentlich höher als die von TNT sei. Probst et al. (1944) gehen von einer "...sehr kleinen Gruppe allergisch reagierender Personen ..." aus. Schwartz (1944) führt an, daß "ein geringer Prozentsatz von Arbeitern offensichtlich niemals vollkommen unempfindlich wird". Diese Betroffenen zeigten bei erneuter Exposition auch gegenüber nur kleinsten Mengen von Tetryl sofort starke Hautausschläge (Bergman, 1952; Probst et al., 1944; Cripps, 1917). In einem Fall, der näher untersucht wurde, verlief ein patch-Test mit Tetryl in Petroleum, nicht aber Aceton oder Öl, positiv (Goh, 1984). In anderen Untersuchungen wurden Kreuzreaktionen mit 2.4-Dinitrochlorbenzol (Fousserau et al., 1982) sowie auch TNT beobachtet (Goh und Rajan, 1983). In einer Untersuchung zeigten 3 von ca. 200 Beschäftigten mit Tetrylexposition eine positive Reaktion im patch-Test (Parmeggiani et al., 1956). Bain und Thomson (1954) beobachteten bei 26 von 28 tetrylexponierten Arbeitern eine Verbesserung der Dermatitis bei Behandlung mit einem Antihistaminikum.
Darüber hinaus führte verstaubendes Tetryl häufig zu Reizungserscheinungen im Atemtrakt. In manchen Fällen kam es zu vor allem nachts auftretenden schweren asthmaähnlichen Hustenanfällen und Atembeschwerden. außerdem zu heufieberartigen Symptomen (ATSDR, 1995a). In zwei Studien wurde eine Verbesserung der Symptomatik durch Gabe von Sympathomimetika beschrieben (Bain und Thomson. 1954; Eddy, 1943). Zumindest einige dieser Falle werden daher nicht auf die lokal reizenden Effekte von Tetryl zurückgeführt, sondern auf eine Sensibilisierung. Über die Häufigkeit derartiger Reaktionen lassen sich jedoch keine Aussagen treffen.
Tierexperimentelle Befunde:
In einer neueren, nach Standardkriterien der EPA durchgeführten Untersuchung an Kaninchen zeigte Tetryl in Bühler-Test an Kaninchen kein sensibilisierendes Potential; in dieser Studie diente Dinitrochlorbenzol als positive Kontrolle (Fitzgerald et al., 1991).
In einer älteren Untersuchung an Meerschweinchen wurde keine Sensibilisierung bei Kontakt mit normaler oder verbrannter Haut beobachtet, wohl aber nach subkutaner Implantation von Tetrylpellets oder Injektion in Lösung in Propylenglykol und nachfolgender Hautapplikation (Gell, 1944). Dagegen wurde in einer anderen Untersuchung keine Sensibilisierung bei Ratten nach 10-tägiger intrakutaner Gabe von 1 % Tetryl in Propylenglykol beobachtet (Parmeggiani et al., 1956). Hinweise auf eine Sensibilisierung nach inhalativer Aufnahme ergeben sich aus einer älteren Studie an Meerschweinchen (Gell, 1944). Dabei zeigten die Tiere nach Exposition gegenüber Tetryl (400 mg/m3 aus einer Lösung in Aceton für 30 min/d an 6 d) anaphylaktische Reaktionen auf Pikrylgelatine als Antigen bei intravenöser Verabreichung.
Angaben zum Metabolismus:
Befunde am Menschen liegen nicht vor. Bei Kaninchen wurde nach oraler Verabreichung von Tetryl (36 mg/kg KG bis zu 30 Tage) Pikraminsäure (2-Amnino-4,6-dinitrophenol) als Metabolit im Urin gefunden, wahrscheinlich konjugiert mit Sulfat (Zambrano und Mandovano, 1956). Vermutlich erfolgt eine Abspaltung der Methylnitramingruppe unter Bildung von Pikrinsäure, gefolgt von einer Reduktion einer aromatischen Nitrogruppe. In vitro wurden als Hydrolyseprodukte bei pH 9 (im Dunkeln) vor allem Methylnitramin und Pikrat, daneben N-Methylpikramid, Nitrit und Nitrat nachgewiesen (ATSDR. 1995a).
Fazit:
Kanzerogenität:
Obwohl eine kanzerogene Wirkung von Tetryl aufgrund der Gentoxizität in vitro und der Erkenntnisse bei anderen Nitroaromaten vermutet wird (Einstufung in III B der krebserzeugenden Arbeitsstoffe (Greim, 1995)), ist eine Einstufung anhand der Kriterien der Gefahrstoffverordnung wegen der unzureichenden Datenlage nicht möglich (K: -).
Reproduktionstoxizität
Eine Bewertung der Reproduktionstoxizität von Tetryl ist ebenfalls wegen der unzureichenden Datenlage nicht möglich (RF.E:-).
Mutagenität:
Tetryl erweist sich in in vitro Studien als eindeutiges und starkes Mutagen. Zur weiteren Abklärung des mutagenen Potentials sind in vivo Untersuchungen dringend erforderlich, bisher liegen keine derartigen Untersuchungen vor.
Es ist daher die mögliche Einstufung aufgrund von Analogieschlüssen bzw. (vermuteten) Metaboliten zu prüfen:
a) Nitramine:
Die Abspaltung einer Nitramingruppe (Methylnitramin) ist auf Basis des Metabolismus plausibel. Es liegen einige positive Befunde zur Mutagenität bzw. Kanzerogenität anderer Nitramine vor (Khudoley et al.. 1981; Scherf et al., 1989; Pliss et al., 1982), jedoch keine Einstufung von Nitraminen als erbgutverändernde Substanzen oder Kanzerogene.
b) Pikrinsäure (2,4,6-Trinitrophenol):
Aufgrund der Angaben zum Metabolismnus ist die Bildung von Pikrinsäure bei systemischer Aufnahme von Tetryl plausibel Pikrinsäure zeigte überwiegend positive Wirkung an Bakterien teilweise jedoch erst nach metabolischer Aktivierung (EPA, 1984); dies steht im Widerspruch zur stärkeren mutagenen Aktivität ohne
metabolische Aktivierung bei Tetryl und anderen Nitroaromaten. In vivo Tests auf Induktion von dominanten Letalmutationen, Mikronuklei oder Chromosomenaberrationen in Mäusen kamen zu negativen Ergebnissen (Litton Bionetics, 1979a,b; Gocke et al., 1981). Pikrinsäure ist nicht als erbgutverändernde Substanz oder Kanzerogen eingestuft.
c) Trinitrotoluol:
Weiterhin besteht eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit zwischen Tetryl und 2.4,6-Trinitrotoluol (TNT; Greim, 1995). TNT hat sich in vitro als Mutagen (Ames-Test, TK-Locus von Maus-Lymphomazellen) erwiesen (ATSDR, 1995b). Der Urin von TNT-exponierten Beschäftigten enthält Substanzen, die in vitro mutagen wirken. Die bakterielle Nitroreduktaseaktivität wird nicht als verantwortlich für diese mutagene Aktivität angesehen (Ahlborg et al., 1996; IARC. 1996).
Die Gentoxizität von TNT in vivo ist bisher nur unzureichend untersucht. Untersuchungen zu punktmutagenen Effekten von TNT in vivo liegen bisher nicht vor. In einem Mikronukleustest an Knochenmarkzellen von Mäusen wurde keine klastogene Wirkung beobachtet, ein in vivo/in vitro-UDS-Test in der Leber verlief ebenfalls negativ. Eine weitere Studie mit negativem Befund (Chromosomenaberrationen im Knochenmark von Ratten) ist wegen der zu geringen eingesetzten Dosis als nicht aussagekräftig kritisiert worden (ATSDR, 1995b). Da TNT-Exposition beim Menschen zu Methämoglobinbildung führt, für die die Reduktion von Nitrogruppen Voraussetzung ist, und reduzierte, mutagene Metaboliten im Urin exponierter Personen auftreten, besteht jedoch Grund zu der Annahme. daß TNT auch beim Menschen gentoxisch wirkt (TNT, Henschler, 1988). Für TNT besteht darüber hinaus der Verdacht auf eine kanzerogene Wirkung (o.V., 1995 (TRGS 905). Liste c: Carc. Cat. 3). Von der Weltgesundheitsorganisation wurde TNT 1996 jedoch als "nicht klassierbar" hinsichtlich der Kanzerogenität eingestuft (Gruppe 3; IARC, 1996).
In vivo Befunde zu Tetryl für eine Einstufung als "erbgutverändernd" liegen nicht vor.
Nach der GefStoffV kann eine Einstufung in die Kategorie 3 erbgutverändernder Stoffe jedoch auch ohne in vivo Befunde in folgendem Fall vorgenommen werden (1.4.2.2.3, letzter Absatz):
Mutagenität in vitro liegt vor. Das zweite Kriterium ist jedoch hinsichtlich Nitraminen und Pikrinsäure nicht gegeben, da diese bisher nicht als Mutagene oder Kanzerogene eingestuft sind. Hinsichtlich TNT ist die Anwendung dieses Einstufungskriteriums fraglich:
Auch wenn angesichts der deutlichen in vitro-Mutagenität und der strukturellen Ähnlichkeit zu mehreren Nitroaromaten ein Anfangsverdacht gegenüber Tetryl gerechtfertigt ist, entsprechen die Daten nicht den formalen EU-Einstufungskriterien als Mutagen der Kategorie 3. Es wird daher vorgeschlagen, keine Einstufung von Tetryl als erbgutverändernder Stoff vorzunehmen (M: -).
Sensibilisierung:
Befunde aus Tierversuchen lassen keine eindeutig sensibilisierende Wirkung von Tetryl erkennen. Beim Menschen tritt bei Tetrylexposition sehr häufig eine Kontaktdermatitis auf. Genauere Angaben über den Anteil allergischer Reaktionen liegen kaum vor, in einigen Untersuchungen wurde jedoch eine Sensibilisierung durch Hautkontakt nachgewiesen. Es ist somit davon auszugehen, daß Tetryl ein allergenes Potential besitzt. Die Häufigkeit allergischer Reaktionen ist anhand der vorliegenden Daten kaum zu ermitteln. Abschätzungen in der älteren Literatur nennen einen Anteil von wenigen Prozent an Personen, die nach früherem Kontakt schon auf Spuren von Tetryl starke Hautreaktionen zeigen. Tetryl ist in Auflistung der MAK-Werte (DFG, 1996) als sensibilisierender Stoff mit dem Zusatz "S" gekennzeichnet (außerdem Kennzeichnung "H" wegen Hautresorption).
Möglicherweise führt Tetryl auch zur Atemwegsensibilisierung, doch lassen die wenigen vorliegenden Angaben keine abschließende Bewertung zu.
Es wird daher vorgeschlagen, Tetryl als hautsensibilisierend (R 43) einzustufen.
Literatur:
weiter. |