Der Bundesrat hat in seiner 821. Sitzung am 7. April 2006 die aus der Anlage ersichtliche Entschließung gefasst.
Anlage
Entschließung des Bundesrates zu einem Gemeinschaftspatentsystem in Europa
- 1. Der Bundesrat stellt fest, dass die Verhandlungen über die Einführung des Gemeinschaftspatents in eine Sackgasse geraten sind. Er begrüßt deshalb den Vorstoß der Kommission vom 9. Januar 2006, mit einer öffentlichen Konsultation die Diskussion über die Frage, wie der Schutz von Patenten in der EU verbessert werden kann, wieder in Gang zu bringen. Der Bundesrat erinnert daran, dass ein einheitliches europäisches Patentrecht eines der Grundelemente der Lissabon-Agenda ist. Er ist mit der Kommission der Ansicht, dass die EU ein bezahlbares, rechtlich abgesichertes und benutzerfreundliches System für den Schutz geistigen Eigentums braucht, wenn sie ein attraktiver Standort für innovative und forschende Unternehmen sein will. Dies setzt zwingend voraus, dass das Verfahren effizient, schnell und kostengünstig ist. Der vorliegende Vorschlag für ein Gemeinschaftspatent erfüllt diese Voraussetzungen nicht.
- 2. Die von der Kommission eingeleitete Konsultation sollte daher dazu genutzt werden, die erheblichen Schwächen der zuletzt vorgesehenen Ausgestaltung des Gemeinschaftspatents aufzuzeigen und zugleich die Möglichkeiten auszuloten, auch neue Wege zu einem europäischen Patentsystem in Betracht zu ziehen.
- 3. Die Fortentwicklung des Patentschutzsystems in Europa sollte nicht zum Anlass genommen werden, das in Europa geltende Patentrecht und das auch im internationalen Vergleich bewährte Patenterteilungsverfahren des Europäischen Patentamts zur Disposition zu stellen. Die Fortentwicklung sollte dort ansetzen, wo derzeit Defizite bestehen. Diese bestehen weder bei den materiellrechtlichen Vorschriften, die in allen Mitgliedstaaten des Europäischen Patentübereinkommens weitgehend harmonisiert sind, noch im Patenterteilungsverfahren.
Defizite bestehen bei der gerichtlichen Überprüfung und Durchsetzung von Patenten in grenzüberschreitenden Fällen.
Das Patent gibt dem Erfinder im Gegenzug für seine Offenbarung der Erfindung ein zeitlich befristetes Recht, anderen die gewerbliche Anwendung der Erfindung untersagen zu können. Das Patent regelt nicht, ob die Erfindung im Rahmen der Gesetze auch angewendet werden darf, insbesondere erlaubt es nicht ihre Nutzung. Die Berücksichtigung weiterer Gemeinwohlinteressen - fairer Wettbewerb, ethisches Verhalten, Umweltschutz, Gesundheitsschutz, Informationsfreiheit, Freiheit von Wissenschaft und Forschung, Innovation - ist im Patentrecht daher nur in engen Grenzen sinnvoll und erfolgt bereits durch das geltende Recht.
Soweit Harmonisierungsbedarf im Hinblick auf die in den Mitgliedstaaten divergierende Spruchpraxis besteht, wie etwa bei der Festlegung des Schutzumfangs eines Patents (nur Wortsinn oder auch so genannte äquivalente Lösung) bedarf es zunächst einer umfassenden und sorgfältigen Informationsgewinnung über die bestehenden Divergenzen und ihre Gründe. Darüber hinaus würde das in Ziffer 6 geforderte Streitregelungsabkommen für eine Angleichung sorgen.
- 4. Für die Patenterteilung ist auf Grund seiner besonderen Kompetenz das Europäische Patentamt berufen. Das Erteilungsverfahren muss jedoch im Interesse der Patentanmelder möglichst effizient durchgeführt werden und kostengünstig sein.
Der Bundesrat setzt sich deshalb nachdrücklich dafür ein, die bisher vorgesehene kostenintensive Übersetzung der Patentansprüche in alle Amtssprachen der EU aufzugeben. Das Londoner Abkommen ist deshalb zu begrüßen. Es sieht vor, dass die teilnehmenden Staaten bei Europäischen Patenten auf die Übersetzung der umfangreichen Patentschriften verzichten. Somit wird es in der Regel ausreichen, dass die vergleichsweise kurz gefassten Patentansprüche aus der Verfahrenssprache des Erteilungsverfahrens in die beiden anderen Amtssprachen des Europäischen Patentamtes (das sind deutsch, französisch und englisch) übersetzt werden. Die Übersetzungskosten würden sich damit für die deutschen Anmelder halbieren. Der Bundesrat spricht sich deshalb dafür aus, auf ein möglichst schnelles In-Kraft-Treten des Londoner Abkommens hinzuwirken. Nach dem Vorbild anderer Sprach-Regimes (z.B. Artikel 20 der Richtlinie 2004/109/EG, so genannte Transparenzrichtlinie) könnte es sich auch anbieten dass der Patentanmelder die Patentansprüche lediglich in der Sprache seines Heimatstaats und in einer weiteren Sprache, die vom Europäischen Patentamt akzeptiert wird oder die im Patentwesen gebräuchlich ist, vorzulegen hat.
Für die Wirkung des Patents können im Interesse der internationalen Akzeptanz eines europäischen Patents nur die Sprachen maßgeblich sein, die vom Europäischen Patentamt akzeptiert werden oder die im Patentwesen gebräuchlich sind. Eine Ausweitung der Rechtswirkungen von etwaigen - und auf ein Mindestmaß zu beschränkenden - Übersetzungen ist abzulehnen; diese dürfen im Grundsatz nur eine rechtlich unverbindliche Information darstellen.
- 5. Zu einem erfolgreichen europäischen Patentsystem gehört auch eine wirksame Patentgerichtsbarkeit. Diese muss effizient, das heißt insbesondere schnell und kostengünstig sein. Eine wirksame und effiziente Patentgerichtsbarkeit sollte nach Auffassung des Bundesrates insbesondere folgende Voraussetzungen erfüllen:
- - Das Ziel eines effektiven Rechtsschutzes lässt sich im Hinblick auf Ortsnähe, Verfahrensdauer und Kosten am Besten durch die erstinstanzliche Zuständigkeit von Gerichten in den Mitgliedstaaten erreichen. Im Hinblick auf den örtlichen Gerichtsstand muss der Kläger - wie nach Artikel 5 der Verordnung (EG) Nr. 044/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 (EuGVVO) bzw. nach Artikel 5 des EWG-Übereinkommens über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968 (EuGVÜ, Brüsseler Übereinkommen) - die Möglichkeit haben, das Gericht des Verletzungsortes (Handlungs- oder Erfolgsort) anzurufen. Zur Vermeidung einer Vielzahl paralleler Verfahren muss das angerufene Gericht eine grenzüberschreitende Zuständigkeit besitzen.
- - Das Ziel eines effektiven und schnellen Verfahrens ist auch bei der Sprachenregelung zu beachten. Auf Grund der Komplexität und der fachlichen und sprachlichen Feinheiten gerade in Patentverfahren ist die Notwendigkeit der Übersetzung der Prozessunterlagen wie auch eine eventuelle mehrfache Simultandolmetschung in der mündlichen Verhandlung auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Der Kläger muss daher dann, wenn der Beklagte des Patentverletzungsstreits den Verletzungsgegenstand außerhalb des Mitgliedstaates vertreibt, in dem er seinen Sitz hat, die Möglichkeit haben die Amtsprache am Ort des angerufenen Gerichts als Verfahrenssprache zu wählen. Eine unangemessene Benachteiligung des Beklagten ist hierin nicht zu sehen, weil dieser im Falle einer möglichen Patentverletzung in einem anderen Mitgliedstaat auch heute damit rechnen muss, einem Prozess in einem anderen Staat mit dessen Gerichtssprache ausgesetzt zu werden.
- 6. Der Bundesrat hält einen Fortgang und Abschluss der Verhandlungen über das Streitregelungsabkommen für dringend erforderlich. Er würde es daher begrüßen, wenn die EU weiteren Verhandlungen durch die Mitgliedstaaten des EPÜ zumindest parallel zum Gemeinschaftspatent offen gegenüber stehen würde. Beide Projekte sind nebeneinander möglich, weil sich ihre Zuständigkeitsbereiche nicht überschneiden. Die Gerichtsbarkeit nach dem Streitregelungsabkommen könnte auch als Gerichtsbarkeit für ein reformiertes Gemeinschaftspatent dienen und damit nicht nur beide Ansätze verbinden, sondern auch eine wesentliche Kritik am Gemeinschaftspatent ausräumen.
Es besteht weiter ein ganz erhebliches Bedürfnis für eine einheitliche Rechtsprechung in Europa auch für die vorhandenen über 700 000 Bündelpatente, das durch ein Gemeinschaftspatent nicht befriedigt würde. Im übrigen ist der Bundesrat mit vielen Stimmen aus der Wirtschaft der Ansicht, dass dieses Vorhaben den von der Kommission gesetzten Forderungen nach einem bezahlbaren und benutzerfreundlichen System besser und schneller gerecht würde als das Gemeinschaftspatent in seiner derzeitigen Ausprägung. Er spricht sich daher - und zwar auch unabhängig von der weiteren Entwicklung des Rechtsetzungsverfahrens zum Gemeinschaftspatent - dafür aus, dass die Rahmenbedingungen für das europäische Patent ("Bündelpatent") nach dem Europäischen Patentübereinkommen (EPÜ) verbessert und die Verhandlungen über die Errichtung eines Zentralgerichts mit regionalen Kammern für europäische Patente fortgesetzt werden.
Ein entsprechendes Abkommen liegt mit dem Streitregelungsabkommen (EPLA) praktisch unterschriftsreif vor. Dieses Abkommen hat insbesondere auch den Vorteil, dass der Beitritt fakultativ ist und es deshalb - für die beigetretenen Staaten - auch dann in Kraft treten kann, wenn nicht alle Vertragsstaaten des EPÜ zustimmen.
Die Bundesregierung wird gebeten, sich für die Zustimmung möglichst vieler EPÜ-Staaten, insbesondere Mitgliedstaaten der EU, zu dem Streitregelungsabkommen einzusetzen und dabei auch die Möglichkeit eines Beitritts der EG als Ganzer zu prüfen.
- 7. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung daher auf, sich bei der EU für einen Fortgang der Verhandlungen über das Streitregelungsabkommen einzusetzen und deutlich zu machen, dass ein Gemeinschaftspatent in der derzeitigen Ausgestaltung abzulehnen ist.
Begründung
Nach dem Scheitern der EU-Richtlinie über die Patentierbarkeit computerimplementierter Erfindungen und der schwierigen Diskussion über das Gemeinschaftspatent möchte die Kommission im ersten Halbjahr des Jahres 2006 in einen Dialog mit den beteiligten Kreisen eintreten. Zu diesem Zweck hat sie inzwischen mit Datum vom 9. Januar 2006 einen Fragenkatalog versandt. Die Konsultation soll mit einer öffentlichen Anhörung im Mai 2006 abgeschlossen werden. Die Kommission möchte ihre künftige Patentstrategie definieren und zu diesem Zweck herausfinden, was getan werden sollte, um das europäische Patentschutzsystem zu verbessern.
An diesem Konsultationsprozess sollte sich auf Grund der spezifischen Interessen Deutschlands an einem funktionierenden und effizienten Patentsystem auch der Bundesrat beteiligen, um den Standpunkt und die Interessen der Länder darzulegen.
Dabei sollte der Bundesrat seine schon mehrfach geäußerte Auffassung bekräftigen, dass die EU ein bezahlbares, rechtlich abgesichertes und benutzerfreundliches System für den Schutz geistigen Eigentums braucht, wenn sie ein attraktiver Standort für innovative und forschende Unternehmen sein will. Insoweit wird auf die Stellungnahmen des Bundesrates vom 2. April 2004 zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Übertragung der Zuständigkeit in Gemeinschaftspatentsachen auf den Gerichtshof - BR-Drucksache 064/04(B) - und zu dem Vorschlag für einen Beschluss des Rates zur Errichtung des Gemeinschaftspatentgerichts und betreffend das Rechtsmittel vor dem Gericht erster Instanz - BR-Drucksache 065/04(B) - sowie vom 8. Juli 2005 zu der Mitteilung der Kommission "Bessere Rechtsetzung für Wachstum und Arbeitsplätze in der Europäischen Union" - BR-Drucksache 286/05(B) - verwiesen.
Mit der Entschließung werden die wesentlichen Schwachpunkte der bisherigen Verhandlungsergebnisse aufgezeigt, nämlich insbesondere der Verzicht auf das vom Bundesrat stets befürwortete Regionalkammersystem mit der Einbindung der gut funktionierenden nationalen Patentgerichte zu Gunsten einer zentralen Gemeinschaftspatentgerichtsbarkeit, das teure Sprachen-Regime mit dem Erfordernis von derzeit 21 Übersetzungen der Patentansprüche und die damit verbundene Problematik der Rechtswirkungen der (fehlerhaften) Übersetzungen.
Entsprechend dem Fragenkatalog der Kommission werden auch Wege zu einer Verbesserung des europäischen Patentschutzsystems dargestellt. Hier sollte insbesondere darauf hingewiesen werden, dass bereits heute mit dem EPÜ-Streitregelungsabkommen ein weit gediehenes Vorhaben zur Verfügung steht, das den von der Kommission gesetzten Forderungen nach einem bezahlbaren und benutzerfreundlichen System besser und schneller gerecht würde als das Gemeinschaftspatent in seiner derzeitigen Ausprägung. Zumindest auf mittlere Sicht ist hierin im Falle eines Beitritts der EU zum Europäischen Patentübereinkommen eine echte Alternative zu dem nach wie vor wünschenswerten Gemeinschaftspatentsystem zu sehen. Längerfristig wäre ein Gemeinschaftspatent, das auf eine eigene Gerichtsbarkeit verzichtet, sondern sich der EPLA-Gerichte bedient, ein interessanter Ansatz für eine Verbindung beider Vorschläge.