5. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, dass im Zuge der Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie 2020 keine Verschärfungen der EU-Richtlinie 92/43/EWG (FFH-Richtlinie) und der EU-Richtlinie 2009/147/EG (Vogelschutz-Richtlinie) herbeigeführt sowie diese Richtlinien vor einer Änderung einer grundlegenden Evaluierung unterzogen werden. Daher sollte geprüft werden, ob die in den Richtlinien enthaltenen Bestimmungen den Regelungszweck - auch unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erreicht haben und ob sie der wirtschaftlichen Entwicklung und vor allem der Infrastrukturplanung der Mitgliedstaaten unangemessene Hindernisse bereiten.
Im Zusammenhang mit der EU-Biodiversitätsstrategie 2020 zum Schutz und zur Verbesserung der biologischen Vielfalt ist zu untersuchen, ob die Art der vorgesehenen Umsetzung zu unangemessenen Belastungen der wirtschaftlichen Entwicklung - insbesondere in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland - führen kann.
Die in der Strategie genannten Maßnahmen sind in ihren rechtlichen und ökonomischen Auswirkungen nicht transparent. Es besteht daher die Gefahr, dass die begrenzten finanziellen Ressourcen unverhältnismäßig zu Lasten der anderen, ebenfalls für eine nachhaltige Gesellschaft lebenswichtigen Belange beansprucht werden - so beispielsweise der sozialen Sicherungssysteme oder der nachhaltigen Energieversorgung. Auch besteht die Gefahr erheblicher Verschärfungen der geltenden Bestimmungen insbesondere mit der Konsequenz, dass die wirtschaftliche Entwicklung erschwert und vor allem die weitere Infrastrukturplanung unzumutbaren Einschränkungen ausgesetzt sein wird.
Im Zentrum der EU-Biodiversiätsstrategie 2020 steht unter anderem eine Verschärfung der Überwachungs- und Berichtspflichten der Habitat- und Vogelschutz-Richtlinie (Maßnahme 4a). Allerdings können schon mit den derzeit vorhandenen finanziellen Mitteln die bestehenden Anforderungen der FFH- und Vogelschutz-Richtlinie nicht vollständig erfüllt werden. Daher kann der kostenaufwändige Ausbau des Monitorings- und Berichtswesens ohne eine vorhergehende Überprüfung der Wirksamkeit bestehender Regelungen nicht ausreichend begründet werden. Derartige zusätzliche Anforderungen an die Naturschutzverwaltung setzen zudem deren Kapazität für die fachliche Begleitung von Infrastrukturvorhaben herab.
Gleichzeitig besteht das Risiko, dass durch die EU-Biodiversitätsstrategie 2020 verschärfte Anforderungen auch an FFH-Verträglichkeitsprüfungen im Zusammenhang mit Infrastrukturvorhaben entstehen. Eine Ausweitung der zu bearbeitenden Naturschutzfragen in FFH-Verträglichkeitsprüfungen, die regelmäßig bereits eine enorme Komplexität und einen erheblichen Umfang aufweisen, wäre unangemessen. Sie erhöht die Rechtsunsicherheit der Planfeststellung und verzögert Gerichtsverfahren. Verschärfte Prüfanforderungen wären allenfalls dann begründbar, wenn zuvor der Anpassungsbedarf der FFH-Richtlinie transparent im Zuge ihrer Evaluierung ermittelt worden wäre.
Eine Evaluierung der FFH- und Vogelschutz-Richtlinie müsste nach Auffassung des Bundesrates auch die Frage klären, ob die Richtlinien unangemessene Hindernisse für einen notwendigen Ausbau der Infrastruktur darstellen, beispielsweise von Stromleitungen oder Verkehrswegen. Es hat sich herausgestellt, dass bei der Planung von Infrastrukturvorhaben und etwaigen Konflikten mit dem Naturschutz das Interesse an den Vorhaben und anderen Belangen - wie etwa dem Lärmschutz - nicht ausreichend gewichtet werden kann. Die Planung muss unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse den Beweis führen können, dass von dem Vorhaben keine erheblichen Beeinträchtigungen von FFH-Gebieten ausgehen. Vernünftige Zweifel gehen zu Lasten des Vorhabens. Mangels hinreichender Kenntnisse in der Ökosystemforschung führt diese Beweisregel zu vorsorglichen Worst-Case-Betrachtungen. Im Ergebnis entstehen hierdurch Verfahrensverzögerungen, hohe Kosten und ein hoher Aufwand, außerdem ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit.
Überdies besitzt die EU-Biodiversitätsstrategie 2020 einen ambitionierten Schwerpunkt außerhalb der Natura-2000-Gebiete (Maßnahmen 5 bis 7). Hierüber sollen flächendeckend Ökosysteme erhalten, verbessert sowie 15 Prozent der geschädigten Ökosysteme wiederhergestellt werden. Neu ist dabei auch die Erfassung von Ökosystemdienstleistungen.
Das Strategiepapier selbst verweist jedoch darauf, dass wichtige, durch Forschung zu schließende Wissenslücken auf dem Gebiet der Ökosystemdienstleistungen bestehen. Die Wissensdefizite sind groß. So existieren wissenschaftliche Ansätze, die - anders als das Strategiepapier - nicht auf den pauschalen Schutz der Biodiversität ausgerichtet sind. Im Vordergrund steht stattdessen ein intelligentes Flächenmanagement und -bewirtschaftungssystem durch geschlossene Stoffkreisläufe, nicht die "Sanktionierung" jeglicher Flächeninanspruchnahme. Die biologische Vielfalt ist eine Folge dieser nachhaltigen Flächennutzung.
Wie angesichts der Wissenslücken bei der Erfassung und Steuerung von Ökosystemdienstleistungen sowie der zum Teil nur allgemein und intransparent formulierten Maßnahmen ressourceneffizient die Wiederherstellung von mindestens 15 Prozent aller geschädigten Ökosysteme und ihrer Dienstleistungen erbracht werden soll, legt das Strategiepapier nicht dar. Vorrang sollte daher nach Auffassung des Bundesrates die Beseitigung der Wissensdefizite haben, um effiziente, Erfolg versprechende Maßnahmen realisieren zu können.
Es ist zu befürchten, dass die Finanzierung derartiger Maßnahmen insbesondere zu Lasten der Infrastrukturentwicklung geht. Durch die geplanten Ausgleichs- oder Entschädigungsregelungen werden Infrastrukturprojekte verteuert, obwohl die Wirksamkeit der Maßnahmen zum Erhalt der Ökosystemdienstleistungen auf Grund bestehender Forschungslücken nicht ausreichend belegt ist. Nicht auszuschließen ist dabei ferner eine Verschärfung des ohnehin umfassenden EU-Umweltrechts und auch der nationalen Eingriffsregelung gemäß § 15 Bundesnaturschutzgesetz - etwa verringerte räumliche Flexibilität beim Ausgleich, erhöhter Kompensationsaufwand.
Die Maßnahme 6 zur Verbesserung von mindestens 15 Prozent der geschädigten Ökosysteme kann zudem angesichts der Möglichkeit, innovative Finanzierungsquellen zu erschließen, zusätzliche Kosten selbst bei vorhandener Infrastruktur bewirken.
Angesichts der ökologischen Wissensdefizite und des bereits jetzt komplexen EU-Umwelt- und EU-Naturschutzrechts hält es der Bundesrat für geboten, dass sich die Bundesregierung gegenüber der Kommission für eine vorrangige Beseitigung der Wissenslücken und gegen eine weitere Verschärfung der rechtlichen Bestimmungen zu Lasten der wirtschaftlichen Entwicklung ausspricht. Zudem sollten die FFH- und Vogelschutz-Richtlinie vor ihrer Anpassung an die EU-Biodiversitätsstrategie 2020 einer grundlegenden Evaluierung unterzogen werden. Hierbei sollte insbesondere die Möglichkeit der Privilegierung ausgewählter Infrastrukturvorhaben - beispielsweise überregional bedeutsame Stromleitungen - erwogen werden, um zukünftig unangemessen hohe Prüfanforderungen, Rechtsunsicherheiten und Zeitverzögerungen zu vermeiden.
(bei Annahme entfallen Ziffern 6 bis 8)