Der Bundesrat hat in seiner 814. Sitzung am 23. September 2005 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Einbindung der Mitgliedstaaten in den Diskussionsprozess zur Erstellung der Strategischen Leitlinien durch die Kommission.
- 2. Der Bundesrat verweist auf seine Stellungnahme vom 15. Oktober 2004 (BR-Drucksache 565/04(B) ) und bedauert, dass seine ablehnende Haltung gegenüber einem dreistufigen Strategie- und Programmplanungsansatz in der Verordnung des Rates über die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) keinen Niederschlag gefunden hat. Er steht im Gegensatz zur eingeforderten Subsidiarität mit der gewünschten Stärkung des bottom-up-Prinzips und dem Ziel der Verwaltungsvereinfachung.
- 3. Der Bundesrat ist in Anbetracht der vom Rat beschlossenen ELER-Verordnung der Auffassung, dass die Strategischen Leitlinien die Entscheidungsspielräume der Mitgliedstaaten und Regionen bei der Umsetzung der ELER-Verordnung in keiner Weise beeinträchtigen dürfen. Dies gilt insbesondere auch für den Einsatz der EU-Mittel für alle in der ELER-Verordnung genannten kofinanzierungsfähigen Maßnahmen.
- 4. Der Bundesrat hegt Vorbehalte gegen eine ausschließliche Ausgestaltung der Förderung von Maßnahmen zur Entwicklung des ländlichen Raums nach der Prämisse des "höchsten Mehrwerts". Im Hinblick auf eine multifunktionale Landwirtschaft in den EU-Mitgliedstaaten erscheint eine Bewertung des Nutzens einer Förderung ausschließlich nach dem Prinzip des Mehrwerts nicht zielführend. Das Prinzip des Werterhalts sollte zumindest gleichrangig berücksichtigt werden. Die Quantifizierung des Mehrwerts dürfte im Einzelfall zudem nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand abprüfbar sein.
- 5. In den Leitlinien sollte nach Auffassung des Bundesrates nicht von einer bereits gegebenen verbesserten Wettbewerbsfähigkeit, sondern allenfalls von einer dahin gehenden Erwartung ausgegangen werden. Die Verringerung des Stützpreisniveaus im Zuge der Reform der gemeinsamen Agrarpolitik wird den Strukturwandel in der Landwirtschaft voraussichtlich europaweit beschleunigen. Vor diesem Hintergrund ist die Aufrechterhaltung einer flächendeckenden nachhaltigen Landbewirtschaftung in vielen Regionen ernsthaft in Frage gestellt.
- 6. Der Bundesrat vertritt die Auffassung, dass im Rahmen der Entwicklung des ländlichen Raums nicht von "Agrar- und Lebensmittelindustrie", sondern von "Agrar- und Ernährungswirtschaft" gesprochen werden sollte. Unter den gegebenen agrarstrukturellen Verhältnissen in der EU erscheint der Begriff "Agrarindustrie" verfehlt. Auch ist die Formulierung "Lebensmittelindustrie Europas" vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Beschränkung der Marktstrukturförderung in der zukünftigen Förderperiode auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU) und trotz der eingeschränkten Erweiterung auf größere Unternehmen nicht nachvollziehbar.
- 7. Der Bundesrat lehnt eine explizite OECD-Definition ländlicher Gebiete auf der Basis der Bevölkerungsdichte in den Leitlinien auf Grund der Verschiedenartigkeit ländlicher Gebiete in der EU und sehr unterschiedlicher Möglichkeiten der individuellen Festlegung mit Nachdruck ab. Die Verwendung derartiger Kriterien, wenn auch nur zur Verdeutlichung von Sachverhalten, hat erfahrungsgemäß Folgewirkungen im Hinblick auf eine künftige Rechtsetzung, auf den Ausschluss möglicher Fördergebiete und auf den Verwaltungsaufwand.
- 8. Die Beeinträchtigungen biotischer und abiotischer Ressourcen durch die Landwirtschaft sind nach Meinung des Bundesrates im Entwurf der Leitlinien überzeichnet und sollten relativiert werden. So hat sich beispielsweise die Problematik "Stickstoffüberschuss" durch die Umsetzung der Nitratrichtlinie sowie auf Grund rückläufiger Tierbestände in vielen Mitgliedstaaten bereits entspannt.
- 9. Der Bundesrat hält die einzelbetriebliche Investitionsförderung gemäß ELER-Verordnung für ein wesentliches Instrument zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft. Dieser Bereich sollte gegenüber den anderen Bereichen, wie leichter Zugang zu Forschung und Entwicklung, Integration der Lebensmittelkette und Informations- und Kommunikationstechnologie, nicht untergeordnet, sondern im Sinne der Lissabon-Strategie vorrangig dargestellt werden. Die Förderung öffentlicher Güter, die durch Marktversagen nicht ausreichend bereitgestellt werden, ist dabei als nachrangiges Ziel der einzelbetrieblichen Investitionsförderung einzuordnen.
- 10. Der Bundesrat bedauert, dass eine Anreizkomponente für Umweltleistungen und artgerechte Tierhaltung nach der ELER-Verordnung nicht vorgesehen ist. Ohne entsprechenden Anreiz sind die Hürden für eine Teilnahme an Programmen für besondere Umweltleistungen erfahrungsgemäß zu hoch, um eine zufriedenstellende Bereitschaft zur Teilnahme zu erreichen.
Der Bundesrat erwartet, dass die Transaktionskosten insbesondere im Hinblick auf Dauer und Höhe so ausgestaltet werden, dass auch künftig die gewünschte positive Wirkung auf eine Teilnahmebereitschaft an entsprechenden Maßnahmen erzielt wird.
- 11. Der Bundesrat empfiehlt, auf die in Zusammenhang mit der Erhaltung der Kulturlandschaft erfolgte Fokussierung auf Feuchtgebiete, Trockenrasen und Bergweiden zu verzichten. Aus einer derartigen Fokussierung resultiert eine zu starke Einengung der Begrifflichkeit "Kulturlandschaft". Vorzuziehen wäre eine Formulierung wie zum Beispiel "unterschiedliche Landschaften und Lebensräume".
- 12. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass der Vorschlag für Strategische Leitlinien mit dem Ziel überarbeitet wird, Maßnahmen zum Hochwasserschutz sowie Maßnahmen an oberirdischen Gewässern zur Erreichung der Ziele der Wasserrahmenrichtlinie als prioritäre Schlüsselaktionen aufzunehmen und Maßnahmen zur Modernisierung der örtlichen Infrastruktur nicht in erster Linie auf die neuen Mitgliedstaaten zu beschränken.
Begründung
Hochwasserschutz trägt auch zur Verbesserungen der Produktions- und Lebensbedingungen im ländlichen Raum bei.
Die laufende Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie zeigt, dass in Deutschland erhebliche Defizite im Bereich des ökologischen Zustands der Oberflächengewässer vorhanden sind.
Beide Themenkomplexe sind in den Zielen der geplanten ELER-Verordnung ausdrücklich verankert. Beispielhaft seien hier die Erwägungsgründe Nummer 24, 30, 31 und 41 genannt. Diese Erwägungsgründe spiegeln sich auch in den Artikeln des geplanten Verordnungstextes wider. In den Strategischen Leitlinien werden diese Schlüsselaktionen bislang nicht erwähnt. Auf Grund der Bedeutung der Leitlinien für die spätere Mittelverteilung in den Mitgliedstaaten ist dies jedoch erforderlich.
Maßnahmen zur Modernisierung der örtlichen Infrastruktur, also beispielsweise der Wasserinfrastruktur, sollen nach den Strategischen Leitlinien "insbesondere in den neuen Mitgliedstaaten" angewandt werden (S. 14 der BR-Drucksache 569/05 (PDF) , 3. Tiret). Entsprechende Maßnahmen sind jedoch auch in Deutschland gerade im ländlichen Raum weiterhin erforderlich.
- 13. Der Bundesrat hält eine stärkere Gewichtung der Diversifizierung landwirtschaftlicher Unternehmen für geboten. Dabei sollte der landwirtschaftliche Bezug bei Maßnahmen der Schwerpunktachse 3 nicht verloren gehen. Auf die Kohärenz mit den Strukturfondsinterventionen ist zu achten.
- 14. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die im Rahmen von Schwerpunkt 3 für die Bereiche der Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft und der Lebensqualität im ländlichen Raum eingesetzten Mittel auch für den Erhalt und die Verbesserung des natürlichen und kulturellen Erbes eingesetzt werden sollten.
Begründung
Die ELER-Verordnung ermöglicht in der dritten Achse in Artikel 55 die Ausarbeitung von Schutz- und Bewirtschaftungsplänen für Natura-2000-Gebiete und sonstige Gebiete mit hohem Naturwert sowie andere Maßnahmen im Zusammenhang mit der Erhaltung, Wiederherstellung und Verbesserung des natürlichen und des kulturellen Erbes.
Da die Ausarbeitung von Schutz- und Bewirtschaftungsplänen zwingende Folgen der für die Mitgliedstaaten verpflichtenden Umsetzung des Natura-2000-Netzwerks ist, gleichzeitig aber nicht notwendigerweise mit der Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten verbunden ist, stellt die Forderung eine notwendige Ergänzung für die Maßnahmen dar, die nicht allein unter dem Beschäftigungseffekt gesehen werden dürfen, da der Erhalt der biologischen Vielfalt auch Investitionen erfordert, die nicht von der (zweiten) Achse zur Verbesserung von Umwelt und Landschaft abgedeckt sind.
- 15. Zu den Schlüsselaktionen, auf die sich die Mitgliedstaaten im Rahmen des Aufbaus lokaler Kapazitäten für Beschäftigung und Diversifizierung konzentrieren sollen, sollte auch die Stärkung und Nutzung des zivilgesellschaftlichen Engagements im ländlichen Raum gehören. Die Erschließung des endogenen Entwicklungspotenzials der ländlichen Gebiete ist eng mit der Motivation und Möglichkeit der Bevölkerung zur Übernahme von Verantwortung verbunden. Für eine engere Kooperation sind Plattformen zu schaffen, auf denen sich Meinungsführer der Region zusammenschließen können. An vielen Stellen haben sich lokale Nachhaltigkeitsstrategien, wie z.B. die lokale Agenda 21, als geeignete Instrumente erwiesen, um Findungsprozesse zu katalysieren.
Begründung
Gerade in sehr stark ländlich geprägten Ländern, wie Mecklenburg-Vorpommern, erweisen sich die lokalen Nachhaltigkeitsstrategien (lokale Agenda) auf dörflicher Ebene zunehmend als Sammelbecken regionaler Akteure. Aus ihnen gehen vielfältige Impulse hervor, die die Innovationskraft etablierter Programme, wie Leader oder die Dorferneuerung, erhöhen. Zunehmend spielt bei diesen Prozessen die Beteiligung der örtlichen Gemeinschaften eine Rolle. Nicht selten scheitert ein solches Engagement jedoch an der fehlenden Infrastruktur.
Die Länder unterstützen diese Prozesse in vielfältiger Weise ideell und finanziell. Eine weitere Unterstützung durch die Integration lokaler Nachhaltigkeitsstrategien in die "Strategischen Leitlinien der Gemeinschaft für die Entwicklung des ländlichen Raums" wäre ein sehr wünschenswertes Signal und würde die Erschließung der endogenen Potentiale deutlich verbessern.
- 16. Der Bundesrat weist daraufhin, dass das vorgesehene Verwaltungs-, Kontroll-, Berichterstattungs- und laufende Bewertungssystem äußerst aufwändig und mit der notwendigen und vielfach geforderten Verwaltungsvereinfachung und dem Aufgabenabbau nicht vereinbar ist. Die bürokratischen Anforderungen sind deshalb zu minimieren.