891. Sitzung des Bundesrates am 16. Dezember 2011
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Rechtsausschuss empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt die Zielsetzung des Richtlinienvorschlags, Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) zu bekämpfen. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass integrierte und effiziente Finanzmärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Märkte unabdingbare Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand sind.
- 2. Die Subsidiaritätsrüge gemäß Artikel 12 Buchstabe b EUV erfasst auch die Frage der Zuständigkeit der EU - siehe die Stellungnahmen des Bundesrates vom 9. November 2007, BR-Drucksache 390/07(B) , Ziffer 5, und vom 26. März 2010, BR-Drucksache 043/10(B) , Ziffer 2. Der Grundsatz der Subsidiarität ist ein Kompetenzausübungsprinzip. Gegen das Subsidiaritätsprinzip wird auch dann verstoßen, wenn keine Kompetenz der Union besteht. Daher muss im Rahmen der Subsidiaritätsprüfung zunächst die Frage der Rechtsgrundlage geprüft werden.
- 3. Der vorgelegte Vorschlag für eine Richtlinie über strafrechtliche Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulation lässt sich nicht auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV stützen.
Nach dem in Artikel 5 Absatz 2 EUV normierten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung darf die EU nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben. Artikel 83 Absatz 2 AEUV gestattet, durch Richtlinien Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen zu erlassen, wenn die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften unerlässlich ist für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem bereits Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind. Jeder auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV basierende Legislativakt der EU muss demnach das Kriterium der Unerlässlichkeit erfüllen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil über das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon (BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 - 2 BvE 2/08 u.a. -, NJW 2009, 2267) hierzu wörtlich ausgeführt:
"Damit dieser Ausnahmetatbestand erfüllt ist und die Ermächtigung zur Strafgesetzgebung im Annex als übertragen angenommen werden kann, muss nachweisbar feststehen, dass ein gravierendes Vollzugsdefizit tatsächlich besteht und nur durch Strafandrohung beseitigt werden kann." Nur weil die Vorschrift des Artikels 83 Absatz 2 AEUV von ihrem Wortlaut her eng gefasst sei und mithin nur Raum für eine enge Auslegung der Annex-Kompetenz biete, hat das Bundesverfassungsgericht das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon als verfassungskonform angesehen. Anderenfalls erfolge mit der Annex-Kompetenz eine gravierende Ausdehnung der Zuständigkeit zur Strafrechtspflege, die mit dem Prinzip einer sachlich bestimmten und nur begrenzten Übertragung von Hoheitsrechten an sich ebenso wenig zu vereinbaren sei wie mit dem gebotenen Schutz des demokratisch an die Mehrheitsentscheidung des Volkes besonders rückgebundenen nationalen Gesetzgebers.
Es muss folglich nachgewiesen werden, dass die Wirksamkeit des EU-Rechts nur dadurch erreicht werden kann, dass die strafrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten insgesamt mit einem Mindestmaß angeglichen werden. Vollzugsdefizite müssen gerade in den Mitgliedstaaten feststellbar sein, die in diesem Bereich über keine hinreichenden strafrechtlichen Vorschriften verfügen.
Diese Anforderungen des Artikels 83 Absatz 2 AEUV erfüllt der Richtlinienvorschlag nicht:
- - Er enthält keine Aussage zu der Frage, ob und warum EU-weite Mindeststandards für strafrechtliche Sanktionen unerlässlich sind für die Durchführung der Politik der Union, die schwersten Formen des Marktmissbrauchs zu verhindern.
- - Der vorgetragene Umstand, dass ein strafrechtliches Vorgehen der EU zur Behebung eines Problems beitragen oder sich im Hinblick auf ein Ziel positiv auswirken dürfte, begründet keine Unerlässlichkeit i.S.d. Artikels 83 Absatz 2 AEUV.
- - Gleiches gilt für den Hinweis auf die Unterschiede des Sanktionssystems in den einzelnen Mitgliedstaaten und auf die Gefahr von Tatortverlagerungen in Länder mit weniger strengen Sanktionsvorschriften. Es werden weder die konkreten Auswirkungen der unterschiedlichen Sanktionssysteme auf die Strafverfolgung wegen Marktmissbrauchs dargelegt noch wird konkret belegt, dass und mit welchen Folgen es zu Tatortverlagerungen kommt. Die rein theoretische Möglichkeit der Verlagerung von Tatorten ist kein Spezifikum des Finanzmarktmissbrauchs, sondern gilt für sämtliche Kriminalitätsfelder, in denen das Strafrecht der Mitgliedstaaten nicht voll angeglichen ist. Diese generelle theoretische Überlegung vermag folglich eine Unerlässlichkeit im Sinne des Artikels 83 Absatz 2 AEUV nicht zu belegen. Andernfalls würde zudem der Unterschied zwischen diesem Kompetenztitel und demjenigen nach Artikel 83 Absatz 1 AEUV eingeebnet: Letzterer lässt Mindestvorschriften der EU für bestimmte Kriminalitätsbereiche tatsächlich allein aufgrund ihrer besonderen grenzüberschreitenden Dimension zu, beschränkt dies aber auf einen Katalog konkreter Deliktsfelder, zu denen der Marktmissbrauch nicht gehört.
- 4. Der Bundesrat verweist ergänzend auf seine Stellungnahme zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht, KOM (2011) 573 endg. vom 4. November 2011 - BR-Drucksache 582/11(B) , Ziffer 3 -, sowie auf seine Stellungnahme zur Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Stärkung der Sanktionsregelungen im Finanzdienstleistungssektor, KOM (2010) 716 endg. vom 11. Februar 2011 - BR-Drucksache 811/10(B) , Ziffer 1.
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union und der Rechtsausschuss empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 5. Der Bundesrat begrüßt die Zielsetzung des Richtlinienvorschlags, Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) zu bekämpfen. Der Bundesrat teilt die Auffassung der Kommission, dass integrierte und effiziente Finanzmärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in diese Märkte unabdingbare Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand sind.
- 6. § 38 Absatz 1 Nummer 2 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) (unbefugte Mitteilung von Insiderinformationen und Verleitung zum Insiderhandel) beschränkt die Strafbarkeit auf abschließend aufgezählte Personen, die Insiderinformation in bestimmter Art und Weise erlangt haben (sogenannte Primärinsider, z.B. Mitglieder der Geschäftsführung des Emittenten). Artikel 3 Buchstabe b des Richtlinienvorschlags geht darüber hinaus, indem die Weitergabe von Insiderinformationen grundsätzlich unabhängig von den persönlichen Voraussetzungen des Weitergebenden bestraft werden soll (Einbeziehung sogenannter Sekundärinsider). Von der Strafbarkeit sollen lediglich Personen ausgenommen werden, die Insiderinformationen rechtmäßig im Rahmen der beruflichen oder geschäftlichen Pflichterfüllung weitergeben. Das geltende deutsche Recht enthält für Sekundärinsider schon jetzt entsprechende Verbote (§ 14 Absatz 1 Nummer 2 und 3 WpHG); diese sind zwar nicht straf-, dafür aber bußgeldbewehrt (§ 39 Absatz 2 Nummer 3 und 4 WpHG), wobei neben vorsätzlichem auch leichtfertiges Handeln erfasst wird.
Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass sich die durch den Richtlinienvorschlag intendierte Aufstufung zum Straftatbestand nur bei entsprechender Strafwürdigkeit eines Verhaltens rechtfertigen lässt. Im Unterschied zu Primärinsidern sind Sekundärinsider Personen, die eine Insiderinformation lediglich auf mittelbarem Weg erhalten haben. Aus Sicht des Bundesrates bedürfte es einer spezifischen Begründung, warum die durch solche Personen vorgenommene unbefugte Mitteilung von Insiderinformationen bzw. die Verleitung zum Insiderhandel über den mit der Bußgeldbewehrung verbundenen Pflichtenappell hinausgehend das mit einer Kriminalstrafe verbundene sozialethische Unwerturteil rechtfertigt. Zwischen den Mitgliedstaaten bestehende Unterschiede in der Bewertung dieser Frage vermögen die Strafwürdigkeit allein nicht zu begründen.
- 7. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Mindestvorschrift zur Marktmanipulation in Artikel 4 Buchstabe a und b des Richtlinienvorschlags den Mitgliedstaaten vorgibt, die - in vielfältiger Weise mögliche - Herbeiführung bestimmter Erfolge, nämlich die Aussendung falscher oder irreführender Signale bzw. die Beeinflussung eines Kurses, unter Strafe zu stellen. Diese Vorgabe wird dabei nicht auf bestimmte Handlungsmodalitäten wie etwa den Abschluss eines Geschäfts oder die Erteilung eines Handelsauftrags begrenzt. Der in Artikel 4 Buchstabe c enthaltenen Handlungsumschreibung der "Verwendung sonstiger Kunstgriffe" kommt ebenfalls keine erkennbare Konkretisierungsfunktion zu. Hinsichtlich der in Artikel 4 Buchstabe d beschriebenen Tathandlung der Informationsverbreitung ist das Verhältnis zu Artikel 4 Buchstabe a unklar. Unverständlich erscheint auch die Formulierung, wonach "Informationen ( ... ) Signale aussenden" sollen.
Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass die Mitgliedstaaten bei der Schaffung von Straftatbeständen dem Bestimmtheitsgrundsatz zu entsprechen haben, was es erfordert, die Reichweite von Tatbeständen in klarer Weise zu begrenzen.
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- 8. Der Finanzausschuss, der Ausschuss für Innere Angelegenheiten und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.