854. Sitzung des Bundesrates am 13. Februar 2009
A.
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) und der Rechtsausschuss (R) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat erkennt an, dass die weitere Angleichung der materiellen Lebensbedingungen von Asylbewerbern - neben einer einheitlichen Asylverfahrens- und Entscheidungspraxis - dazu beitragen kann, die Sekundärmigration dieses Personenkreises zu verringern. Die von der Kommission im Bereich des Lebensunterhalts und zum Teil auch der Gesundheitsleistungen angestrebte Gleichstellung mit eigenen Staatsangehörigen kann sich jedoch insoweit kontraproduktiv auswirken, als das Problem der Sekundärmigration gerade wegen des grundlegenden Gefälles zwischen den Mitgliedstaaten aufgrund unterschiedlicher Sozialsysteme bestehen bleiben bzw. sogar verstärkt werden würde. Der Bundesrat weist deshalb darauf hin, dass die Mindeststandards hinsichtlich der materiellen Lebensbedingungen EU-weit unter Berücksichtigung der nationalen Besonderheiten auf das erforderliche Maß zu beschränken sind. Die Schaffung neuer Pullfaktoren, die zu einem Anstieg der Asylbewerberzahlen führen können, sowie ein weiterer Aufbau von Bürokratie muss verhindert werden.
- 2. Bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ermächtigt der in der Begründung des Richtlinienvorschlags zitierte Artikel 63 Absatz 1 Buchstabe b EGV die EU lediglich zum Erlass von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern, dagegen nicht von Personen, die sonstige (subsidiäre) Formen des internationalen Schutzes beantragen. Der Bundesrat ist im Übrigen der Auffassung, dass eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Richtlinie auf Personen, die subsidiären Schutz beantragt haben, weder erforderlich noch angezeigt ist. Die bisherige Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und Antragstellern auf subsidiären Schutz ist wegen der oftmals unterschiedlichen Zeitdauer des Schutzbedürfnisses sachlich begründet. Die von der Kommission zur Begründung einzig angeführte Kohärenz mit den geltenden EU-Rechtsvorschriften, insbesondere der Anerkennungsrichtlinie, erfordert per se keine Erweiterung des von der Richtlinie begünstigten Personenkreises.
- 3. Der Bundesrat lehnt den Vorschlag der Kommission, den Gewahrsam von Asylbewerbern ausschließlich in speziell hierfür vorgesehenen Einrichtungen zuzulassen, unter Hinweis auf seine Stellungnahme zum Vorschlag über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (vgl. BR-Drucksache 705/05(B) ) ab. Die Vorgabe beinhaltet einen unzulässigen Eingriff in die Planungs- und Organisationshoheit der Mitgliedstaaten und ist nicht erforderlich, da die materiellen Mindestnormen über Gewahrsamsbedingungen sowohl in Haftanstalten als auch in speziell hierfür vorgesehenen Einrichtungen gewährleistet werden können.
- 4. Die auf eine rasche und verbesserte Integration abzielenden Änderungsvorschläge hinsichtlich des Zugangs minderjähriger Kinder zum Bildungssystem (Streichung der Beschränkung auf das öffentliche Bildungssystem, Vorbereitungs- und Sprachkurse) dürfen nach Auffassung des Bundesrates nicht zu einer unerwünschten faktischen Aufenthaltsverfestigung führen und die Bemühungen um Rückführungsmaßnahmen konterkarieren. Diese Gefahr bestünde jedoch gerade dann, wenn - wie im Richtlinienvorschlag vorgesehen - diese weitergehenden Ansprüche auf Bildungsmaßnahmen auch noch nach bestandskräftiger Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Rückführung gelten würden.
- 5. Der Vorschlag der Kommission, den Zugang von Asylbewerbern und Antragstellern auf subsidiären Schutz zu den Arbeitsmärkten zu erleichtern, wird vom Bundesrat abgelehnt. Er unterstreicht seine zur Mitteilung der Kommission zur künftigen Asylstrategie - Ein integriertes Konzept für EU-weiten Schutz - beschlossene Stellungnahme (BR-Drucksache 452/08(B) ). Der Aussage in der Begründung des Richtlinienvorschlags, die Gewährung des Zugangs zur Beschäftigung sei auch für die Mitgliedstaaten von Vorteil, ist zu widersprechen. Ein erleichterter Arbeitsmarktzugang fördert die faktische Aufenthaltsverfestigung von Personen mit nur vorübergehendem Aufenthaltsstatus und kann die Rückführung erheblich erschweren. Im Hinblick auf die tendenziell noch immer niedrigen Anerkennungsquoten in den Asylverfahren ist die Mehrheit der um Schutz nachsuchenden Personen gehalten, nach Ablehnung der Asylanträge bzw. Anträge auf subsidiären Schutz wieder in ihre Heimatländer zurückzukehren. Auch wegen der unerwünschten Anreizwirkung, sich durch Stellung eines Asylantrags bzw. Antrags auf subsidiären Schutz einen erleichterten Zugang zu den Arbeitsmärkten zu verschaffen und dadurch innerstaatliche Beschränkungen zu umgehen, begegnet die vorgeschlagene Verkürzung der maximal zulässigen nationalen Sperrfrist auf sechs Monate Bedenken.
- 6. Soweit die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen für den Arbeitsmarktzugang nach Maßgabe des einzelstaatlichen Rechts festzulegen, unter den allgemeinen Vorbehalt gestellt werden soll, dass der Zugang zur Beschäftigung nicht verzögert oder in unangemessener Weise beschränkt werden darf, ist hervorzuheben, dass das grundsätzliche Erfordernis einer Vorrangprüfung durch die Arbeitsagenturen nicht angetastet werden darf. Im Übrigen weist der Bundesrat erneut darauf hin, dass die Entscheidung über Art und Maß des Arbeitsmarktzugangs für Drittstaatsangehörige zu den Arbeitsmärkten ausschließlich in den nationalen Kompetenzbereich fällt. Die vorgeschlagenen Zugangslockerungen begegnen bereits im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip erheblichen Bedenken. Weiterhin gilt, dass den unterschiedlichen Gegebenheiten der nationalen Arbeitsmärkte hinreichend Rechnung zu tragen ist.
- 7. Der Vorschlag, die Leistungsansprüche von Asylbewerbern auf das nationale Sozialhilfeniveau anzuheben, wird ebenfalls abgelehnt. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich das nationale System des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) bewährt hat. Art und Umfang der dort geregelten Versorgung sind angemessen.
- 8. Die Anhebung auf das allgemeine Sozialhilfeniveau würde der Zielsetzung des Gesetzes, Anreize zur Einreise aus wirtschaftlichen Gründen bzw. für ein weiteres Bleiben im Bundesgebiet nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens zu verringern, zuwider laufen.
- 9. Der Bundesrat unterstreicht, dass einer Aufweichung des Sachleistungsprinzips entschieden entgegenzuwirken ist. Die in den Begriffsbestimmungen des Richtlinienvorschlags enthaltene Klarstellung, dass Unterkunft, Verpflegung und Kleidung weiterhin in Form von Sachleistungen erbracht werden kann, wird deshalb zwar begrüßt, ist jedoch wegen ihres geringen normativen Stellenwerts nicht ausreichend. Deshalb ist zusätzlich zu fordern, dass die in den allgemeinen Bestimmungen zu materiellen Leistungen vorgeschlagene Streichung des bisherigen Artikels 13 Absatz 5 der Richtlinie rückgängig gemacht wird. Um keine zusätzlichen Anreize für eine Einreise aus wirtschaftlichen Motiven zu schaffen, muss es weiterhin zulässig sein, dass Geldleistungen - sofern der Mitgliedstaat den notwendigen Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Haushaltsgütern durch Sachleistungen abdeckt - nur für den darüber hinausgehenden Bedarf gewährt werden. Der Umstand, dass in den Mitgliedstaaten ggf. unterschiedliche Leistungen gewährt werden, kann nicht dazu führen, dass in denjenigen Mitgliedstaaten, die bereits ein ausreichendes Leistungsniveau bieten, weitere Erhöhungen vorzunehmen sind. Vielmehr wäre darauf hinzuwirken, dass in allen Mitgliedstaaten eine ausreichende Grundversorgung sichergestellt wird.
- 10. Die Angleichung der Gesundheitsversorgung von Asylbewerbern mit besonderen Bedürfnissen an den Leistungsumfang des inländischen Gesundheitssystems ist weder erforderlich noch angezeigt. Nach geltendem Bundesrecht ist grundsätzlich nicht der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung maßgebend, sondern es sind lediglich Leistungen zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände zu gewähren. Das AsylbLG enthält zudem das erforderliche Regelungsinstrumentarium, um auch in Fällen besonderer Bedürfnisse angemessen handeln zu können. Einschränkungen gegenüber den Leistungsansprüchen eigener Staatsangehöriger sind erforderlich und geboten, um die Schaffung zusätzlicher Pullfaktoren zu vermeiden. Es darf nicht übersehen werden, dass eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Asyl- bzw. Schutzsuchenden auch deshalb in das Bundesgebiet einreisen, um eine im Heimatland nicht verfügbare oder nicht bezahlbare medizinische Behandlung zu erlangen. Unabhängig davon ist darauf hinzuweisen, dass das Ziel der Kommission, die medizinische Versorgung von Asylbewerbern europaweit anzugleichen, angesichts des völlig unterschiedlichen Niveaus der Krankenversorgung in den 27 Mitgliedstaaten durch eine Einbeziehung dieses Personenkreises in die nationale Gesundheitsversorgung ohnehin nicht zu erreichen ist.
- 11. Der Bundesrat begrüßt die Beibehaltung der Möglichkeit, bei Verstößen gegen Mitwirkungs- und Verhaltenspflichten die materiellen Leistungen zu beschränken. Allerdings geht der Vorschlag, wonach die Mitgliedstaaten neben dem Zugang zur medizinischen Notversorgung auch "den Lebensunterhalt" nicht einschränken dürfen, deutlich zu weit. Entsprechend dem Zweck der Regelung, das für ein menschenwürdiges Leben erforderliche Existenzminimum zu garantieren, muss die Formulierung in "unabweisbar gebotenen Leistungen des Lebensunterhalts" geändert werden. Insbesondere muss eine Kürzung oder Einstellung der Bewilligung des Geldbetrags für tägliche Ausgaben weiterhin möglich bleiben, um die dauerhafte Verweigerung von Mitwirkungspflichten wirksam sanktionieren zu können.
- 12. Der Bundesrat weist darauf hin, dass der Richtlinienvorschlag der Kommission dazu führen würde, dass in Verfahren zur Überprüfung von Gewahrsamsanordnungen nach Artikel 9, bei Entscheidungen im Zusammenhang mit der Gewährung, dem Entzug oder der Einschränkung von Vorteilen gemäß der Richtlinie und gegen Entscheidungen gemäß Artikel 7, die Asylbewerber individuell betreffen, Beratung und Vertretung schon dann unentgeltlich zu gewähren sind, wenn der Antragsteller die Kosten des Überprüfungsverfahrens nicht selbst tragen kann (Artikel 9 Absatz 6 und Artikel 25 Absatz 2). Anders als die bestehenden Vorschriften des nationalen Rechts zur Beratungshilfe und zur Prozesskostenhilfe (§ 1 Absatz 1 Nummer 3 BerHG und § 114 Satz 1 ZPO) fordert der Richtlinienvorschlag weder gewisse Erfolgsaussichten noch einen Ausschluss der Mutwilligkeit der Rechtsverfolgung. Der Verzicht auf diese die Gewährung von Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe begrenzenden Voraussetzungen würde zu einer erheblichen Erhöhung der von den Ländern zu tragenden Kosten in diesen Bereichen führen.
- 13. Soweit die Kommission verbindlich vorgeben will, den Zugang zur rechtlichen Beratung und Vertretung unentgeltlich zu gewährleisten, wenn der Asylbewerber die damit verbundenen Kosten nicht selbst tragen kann, ist die Regelung entsprechend dem nationalen Prozessrecht davon abhängig zu machen, dass die Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussichten bietet. Andernfalls wäre ein Anstieg der staatlichen Ausgaben für Prozesskostenhilfe unvermeidbar, der die derzeitige Gesetzesinitiative zur Kostenreduzierung konterkarierte (vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Begrenzung der Aufwendungen für Prozesskostenhilfe, BR-Drucksache 250/06 (PDF) ). Im Übrigen besteht kein Anlass, aussichtslose bzw. mutwillige Gerichtsverfahren mit staatlichen Mitteln zu fördern.
- 14. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, im weiteren Verlauf der Rechtssetzung auf europäischer Ebene dafür Sorge zu tragen, dass die Gewährung von unentgeltlicher Beratung und Vertretung nach Artikel 9 Absatz 6 und Artikel 25 Absatz 2 auch erfordert, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
- 15. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Einrichtung neuer Verfahren zur Ermittlung besonderer Bedürfnisse und für die Suche nach Familienangehörigen unbegleiteter Minderjähriger nicht erforderlich ist und zu bürokratischen Erschwernissen führt, ohne einen praktischen Mehrwert nutzbar zu machen. Die Identifizierung besonders schutzbedürftiger Personen wird innerhalb des Asylverfahrens auf der Grundlage der besonderen Schulung und Sensibilisierung der Einzelentscheider sowie Sprachmittler des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schon heute wirksam gewährleistet. Die von der Kommission aufgestellte, aber nicht näher belegte Behauptung, im Umgang mit besonderen Bedürfnissen seien in den Mitgliedstaaten besorgniserregende Defizite festzustellen, trifft auf die Vollzugspraxis im Bundesgebiet nicht zu.
- 16. Die im Vorschlag enthaltenen erweiterten Berichtspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission - zur Überwachung der Richtlinienumsetzung - sind geeignet, ein Mehr an Bürokratie auf nationaler und europäischer Ebene zu erzeugen und damit einer Entwicklung Vorschub zu leisten, die nach einhelliger Auffassung unbedingt zu vermeiden ist. Der Bundesrat lehnt es daher insbesondere ab, dass den Mitgliedstaaten nach Artikel 27 des Richtlinienvorschlags das Führen und die Weitergabe detaillierter fallbezogener Statistiken und damit erheblicher zusätzlicher Verwaltungsaufwand auferlegt werden soll. Im Übrigen bezweifelt der Bundesrat, dass die erforderlichen statistischen Angaben wegen unklarer Begriffsbestimmungen und unterschiedlicher nationaler Regelungen eindeutig zu ermitteln sind. Eine statistische Auswertung der Daten dürfte nach Ansicht des Bundesrats nicht zu aussagekräftigen Ergebnissen führen.
B.
- 17. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik, der Ausschuss für Frauen und Jugend und der Gesundheitsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.