Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Folgen des Urteils des Gerichtshofs vom 13. September 2005

Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 14. Juni 2006 angenommen.

Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 3348 - vom 6. Juli 2006.

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass die wirksame Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu den wichtigsten Anliegen der Gemeinschaftsorgane gehört und eine in Artikel 10 des EG-Vertrags verankerte grundlegende Pflicht der Mitgliedstaaten darstellt,

B. in der Erwägung, dass die Verwirklichung des europäischen Projekts im Laufe der Jahrzehnte die Schaffung eines europäischen Rechtsraums zur Folge hatte, in dem sich die nationalen Rechtsordnungen und das Gemeinschaftsrecht allmählich miteinander verzahnt und ein eigenständiges Gebilde ergeben haben, das nicht nur auf gemeinsamen Werten, sondern auch auf den Grundsätzen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft beruht (Artikel 10 des Vertrags),

C. in der Erwägung, dass jedes Handeln der Gemeinschaft dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip unterliegt,

D. in der Erwägung, dass durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs mehrfach festgestellt wurde, dass die Maßnahmen, die erforderlich sind, um die wirksame Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, strafrechtliche Sanktionen beinhalten können,

E. unter Hinweis darauf, dass die Grundsätze des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und der loyalen Zusammenarbeit die nationale Strafgesetzgebung der Mitgliedstaaten insofern berühren können, als letztere gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofes gehalten sind,

F. in der Erwägung, dass durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes primär Klärung über anzuwendende Rechtsgrundlagen des ersten bzw. dritten Pfeilers geschaffen wurde, wohingegen die Zuständigkeit des europäischen Gesetzgebers in Strafsachen ebenso wie im Strafprozessrecht grundsätzlich verneint wird,

G. insbesondere in der Erwägung, dass der Gerichtshof in der Rechtssache C-176/03 zwar eine allgemeine Zuständigkeit der Gemeinschaft im Bereich des Strafrechts ausschließt, aber feststellt, dass dies den Gemeinschaftsgesetzgeber nicht daran hindern kann, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt,

H. in der Erwägung, dass nach ständiger Rechtsprechung zum Zweck der korrekten Ermittlung der Rechtsgrundlage eines gemeinschaftlichen Rechtsakts auf dessen Ziel und Inhalt Bezug genommen werden muss und folglich gemäß Artikel 29 ff. des EU-Vertrags die im Bereich von Titel VI des EU-Vertrags erlassenen Rechtsakte rechtswidrig sind, wenn sie aufgrund ihres Ziels und ihres Inhalts stattdessen mit dem EG-Vertrag hätten begründet werden können,

I. in der Erwägung, dass der Gegenstand des Urteils in der Rechtssache C-176/03 auf strafrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Umweltschutz beschränkt ist, einen Bereich, der eine der Hauptaufgaben der Gemeinschaft darstellt, wie in den Artikeln 2 und 3 des EG-Vertrags dargelegt ist,

J. in der Erwägung, dass mit dem Urteil in der Rechtssache C-176/03 daher vorsichtig umzugehen ist und es von Fall zu Fall sowie auf jene Bereiche angewendet werden sollte, die zu den wichtigsten Grundsätzen, Zielen und Zuständigkeitsbereichen der Gemeinschaft zählen,

K. in der Erwägung, dass die Kommission in der genannten Mitteilung die Schlussfolgerungen des Gerichtshofs in dem Sinne erweitern wollte, dass sie die im Bereich von Titel VI des EU-Vertrags erlassenen strafrechtlichen Vorschriften auch dann als unrechtmäßig erachtet, wenn sie andere Bereiche gemeinschaftlicher Zuständigkeit betreffen als nur die Umweltpolitik,

L. in der Erwägung, dass eine interpretatorische Erweiterung der Tragweite des Urteils nicht automatisch erscheint,

M. in der Erwägung, dass es nach Auffassung der Kommission im geltenden Recht mit Titel VI des EU-Vertrags begründete Rechtsakte geben kann, deren Rechtsgrundlage im Lichte des Urteils in der Rechtssache C-176/03 aufgrund der extensiven Auslegung durch die Kommission als falsch zu betrachten ist,

N. in der Erwägung, dass sich die Kommission, um der Nichtigerklärung der fraglichen Rechtsvorschriften vorzubeugen und die Rechtssicherheit sicherzustellen, vornimmt, in Bezug auf geltendes Recht und noch anhängige Rechtsetzungsinitiativen verschiedene Maßnahmen zu ergreifen,

O. in Erwägung der Bedeutung der Frage der rechtmäßigen Einbeziehung strafrechtlicher Vorschriften in die auf der Grundlage der ersten Säule der Europäischen Union erlassenen Rechtsvorschriften als weitere Etappe in der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts,

P. in Erwägung der Rolle, die dem Parlament als mit einem demokratischen Mandat ausgestatteten, die europäischen Völker repräsentierenden Gesetzgebungsorgan zusammen mit den andern europäischen Organen als Motor dieser Entwicklung zukommt, vor allem wenn es um die Verabschiedung von Vorschriften geht, die die Bürgerinnen und Bürger in ihren Grundfreiheiten beeinträchtigen können,

Q. in der Erwägung, dass auch im Rahmen der Rechtsordnung der Europäischen Union der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts im Strafrecht eine unverzichtbare Gewähr darstellt, welche die Freiheit des Einzelnen schützen soll und die Ausübung jeglicher Macht an das Gesetz bindet, auch was die Auswahl der zu bestrafenden Tatbestände und der zu verhängenden Sanktionen anbelangt,


1 ABl. C 76 E vom 25.3.2004, S. 224.
2 Kommission gegen Rat, noch nicht in der Sammlung der Rechtsprechung veröffentlicht.
3 Slg. 1999, I-11.
4 Slg. 1989, 2965.
5 Slg. 1996, I-4345.
6 Slg. 1999, I-6207.
7 Slg. 1999, I-431.
8 Rechtssache 080/86 , Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, S. 3969, Rdnr. 13, und Rechtssache C-60/02, X, Slg. 2004, S. I-651, Rdnr. 61 und die darin zitierte Rechtsprechung.