875. Sitzung des Bundesrates am 15. Oktober 2010
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Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU), der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS), der Ausschuss für Familie und Senioren und (FS), der Finanzausschuss (Fz) und der Ausschuss für Innere Angelegenheiten (In) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das mit dem Grünbuch eingeleitete Vorhaben der Kommission, vor dem Hintergrund der Folgen der demographischen Entwicklung und der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen eine Debatte über angemessene, nachhaltige und sichere europäische Pensions- und Rentensysteme anzustoßen. Die von der Kommission mit dem Grünbuch aufgegriffenen Themen haben eine große Bedeutung für die im Rahmen der Europa-2020- Strategie formulierten Kernziele, einen Anstieg der Beschäftigungsquote zu erreichen und die Zahl der armutsgefährdeten Personen zu reduzieren.
- 2. Der Bundesrat ist ebenfalls der Auffassung, dass bei der Gestaltung der Pensions- und Rentensysteme nicht nur finanz- und wirtschaftspolitische Ziele zu berücksichtigen sind. Er begrüßt insofern den integrierten Ansatz des Grünbuchs, der auch die Bedeutung des Sozialschutzes nicht außer Acht lässt.
- 3. Der Bundesrat bekräftigt die Feststellung der Kommission, dass die Verantwortung für die national unterschiedlich ausgestalteten Vorsorgesysteme allein bei den Mitgliedstaaten liegt und die Vorrechte der Sozialpartner nicht in Frage gestellt werden. Die Eigenständigkeit und die Vielfalt der bestehenden Alterssicherungssysteme der Mitgliedstaaten müssen gewahrt bleiben. Durch die von der Kommission im Grünbuch ausgewiesenen Ziele einer Harmonisierung der nationalen Systeme dürfen die Kompetenzen der EU nicht überschritten werden. Auch die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise [auf den Arbeitsmarkt] können [die von der Kommission vorgeschlagenen] Maßnahmen, die in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen, nicht legitimieren.
- 4. Der Bundesrat stimmt der Kommission zu, dass die Alterssicherungssysteme nicht zu Belastungen der öffentlichen Haushalte einzelner Mitgliedstaaten führen dürfen, die Ausgleichs- oder Unterstützungsleistungen der übrigen Mitgliedstaaten erforderlich machen. Daher begrüßt der Bundesrat, dass die Kommission die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen um eine nachhaltige Finanzierung der Alterssicherung unterstützen möchte, und sieht in einem Austausch auf europäischer Ebene einen konkreten Mehrwert.
- 5. Der Bundesrat befürwortet, dass die Kommission die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen um eine nachhaltige Finanzierung der Alterssicherung unterstützen möchte, und erkennt an, dass die Mitgliedstaaten von einem Austausch auf europäischer Ebene profitieren können. Dabei sollten auch die von der Kommission vorgeschlagenen Qualitätskriterien für kapitalgedeckte Altersvorsorge eine Rolle spielen. Klarzustellen ist, dass Belastungen der öffentlichen Haushalte einzelner Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit ihren Alterssicherungssystemen nicht dazu führen dürfen, dass die Union oder die Mitgliedstaaten dafür in Anspruch genommen werden.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass in Deutschland bereits wesentliche Reformen zur Sicherung einer verlässlichen Altersvorsorge durchgeführt wurden. So sieht das geltende Recht unter anderem vor, die Altersgrenze für die Regelaltersrente zwischen 2012 und 2029 schrittweise auf 67 Jahre anzuheben. Außerdem werden bei der Höhe der Rentenanpassungen demographische Veränderungen berücksichtigt, die die Rentenanpassungen niedriger ausfallen lassen und so auch zur Einhaltung der gesetzlich festgelegten Beitragssatz- und Niveausicherungsziele beitragen. Flankierend hierzu wird der Aufbau einer kapitalgedeckten Zusatzrente vom Staat durch Zulagen und steuerliche Abzugsmöglichkeiten gefördert. Verbindliche Vorgaben der EU im Bereich der Altersvorsorge sind daher nicht angezeigt.
- 7. Der Bundesrat betont, dass es vor dem Hintergrund der Kompetenzverteilung und der Wahrung des Subsidiaritätsprinzips allein Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, Regelungen für angemessene Ruhestandseinkommen zu schaffen. Er ist der Auffassung, dass in Anbetracht der [deutlichen Differenzen im Lebensstandard zwischen den Mitgliedstaaten sowie der] großen Unterschiede ihrer sozialen Sicherungssysteme eine EU-einheitliche Definition zur Angemessenheit des Ruhestandseinkommens nicht zielführend ist.
- 8. Der Bundesrat weist darauf hin, dass in Deutschland die Versichertenrenten der gesetzlichen Rentenversicherung auch künftig Lohnersatzfunktion haben und damit im Leistungsfall bei entsprechender Versicherungsbiographie ein angemessenes Ruhestandseinkommen sichergestellt ist. Darüber hinaus kann durch zusätzliche Einkünfte aus privater und betrieblicher Altersvorsorge außerdem ein Gesamteinkommen erreicht werden, mit dem auch im Alter der gewohnte Lebensstandard aufrechterhalten wird. Des Weiteren erinnert der Bundesrat daran, dass es in Deutschland zur Erreichung eines finanziellen Mindeststandards seit Jahresbeginn 2003 die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gibt. Hierbei handelt es sich um eine steuerfinanzierte sowie bedarfsabhängige besondere Sozialhilfeleistung, die das soziokulturelle Existenzminimum sichert. Anspruchsberechtigt sind bei Vorliegen von Bedürftigkeit Personen, die die Regelaltersgrenze erreicht haben, sowie Personen ab 18 Jahren, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind.
- 9. Der Bundesrat spricht sich gegen den im Grünbuch angedachten automatischen Anpassungsmechanismus bezüglich des Renteneintrittsalters aus. Die EU hat für die Festlegung des Renteneintrittsalters keine Kompetenz.
- 10. Zudem ist der Gesundheitszustand der heutigen älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwar deutlich besser als der vorangegangener Generationen, ungeklärt ist jedoch, ob sich dieser entsprechend der steigenden Lebenserwartung weiter verbessern wird. Auch aus diesem Grund ist [der deutschen Bundesregierung von den gesetzgebenden Körperschaften aufgegeben worden,] vom Jahr 2010 an alle vier Jahre sowohl über die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeitnehmer zu berichten als auch eine Einschätzung darüber abzugeben, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung der Entwicklung der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und sozialen Situation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiterhin vertretbar erscheint und die gesetzlichen Reglungen bestehen bleiben können. Auf dieser Grundlage sind sachgerechtere Entscheidungen möglich als über einen automatischen Anpassungsmechanismus.
- 11. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass Aus- und Weiterbildung entscheidende Zielgrößen für den Erhalt und die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt und somit für die Verlängerung des Erwerbslebens sind. Die Verfügbarkeit von gut qualifizierten Fachkräften ist außerdem eine zentrale Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand und ein wichtiger Standortfaktor im internationalen Wettbewerb.
- 12. Aufgrund der demographischen Entwicklung müssen die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen so gestaltet werden, dass sie der Leistungsfähigkeit insbesondere von älteren Beschäftigten gerecht werden. Im Rahmen der Debatte sollten daher auch die positiven Aspekte und Chancen eines längeren Arbeitslebens stärker betont werden. Insofern wird der wachsende Fachkräftemangel zu einer höheren Wertschätzung der Qualitäten älterer Beschäftigter führen. Der Bundesrat teilt die im Grünbuch angedeutete Aussage, dass die Anpassung des Renteneintrittsalters von vielen Faktoren abhängig ist, wie etwa von der Entschlossenheit, mit welcher die Prävention und der Arbeitsschutz über das ganze Erwerbsleben betrieben werden, oder von der medizinischen und beruflichen Rehabilitation zur Erhaltung oder Wiedererlangung der Gesundheit bzw. der beruflichen Leistungsfähigkeit.
- 13. Die EU-weite Anpassung bestehender Statistiken oder gar die Einführung einer zusätzlichen Renten- und Pensions-Statistik ist äußerst kritisch zu sehen. Angesichts der unterschiedlichen statistischen Erfassung von Versorgungslasten innerhalb Deutschlands ist zu bezweifeln, ob die Daten zur Altersvorsorge und zu Vorsorgebedarf zwischen den Mitgliedstaaten überhaupt vergleichbar gemacht werden können.
- 14. Der Bundesrat ist insbesondere der Auffassung, dass die Entwicklung einer EU-Methodik für die Vorsorgestatistik nicht erforderlich ist. Dass hierdurch gewonnene Erkenntnisse über Vermögensverteilungen von Versorgungsempfängern Unternehmen für Zwecke der Umsatzoptimierung dienen sollen, vermag die Einführung zusätzlicher Statistiken und Erhebungen nicht zu rechtfertigen.
- 15. Es besteht die Gefahr, dass mit der Umsetzung der oben genannten Maßnahmen erhebliche Kosten entstehen, die vom Bund und von den Ländern mitgetragen werden müssen. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die OECD in Kooperation mit der EU und der Weltbank bereits eine Online-Datenbank entwickelt hat, die verschiedene Kennziffern zu den Pensions- und Rentensystemen für alle OECD- bzw. EU-Staaten enthält. Der Mehrwert bei Einführung einer zusätzlichen EU-Pensions- und Rentenstatistik ist auch aus diesem Grunde fraglich.
- 16. Der Bundesrat hält auch Vorschläge der Kommission zu Mindeststandards für den Erwerb, die Wahrung und die Übertragbarkeit von Zusatzpensions- und -rentenansprüchen für nicht erforderlich. Der Beweggrund der Kommission, die Rahmenbedingungen für die grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch im Hinblick auf Zusatzpensions- und -rentenansprüche zu verbessern, rechtfertigt aus Sicht des Bundesrates Änderungen nur, wenn diese im Einklang mit bewährten Elementen der nationalen Systeme stehen. Insofern lehnt der Bundesrat eine erneute Debatte über die Portabilität ausdrücklich ab.
- 17. Auch ein Aufzeichnungssystem auf EU-Ebene für alle Arten von Pensions- und Rentenansprüchen lehnt er ab, da dies administrativ sehr aufwändig und im Verhältnis zur Anzahl der betroffenen Versicherten unverhältnismäßig erscheint.
- 18. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die betriebliche Altersversorgung in fast allen EU-Mitgliedstaaten in ihrem Kern eine freiwillige Leistung der Arbeitgeber ist. Daher ist sie auf attraktive Rahmenbedingungen angewiesen. Dabei sind die Interessen sowohl der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu berücksichtigen. Überreglementierung führt [hier] zu negativen Effekten. Der Bundesrat erwartet daher, dass die Kommission hier mit Augenmaß vorgeht und die Besonderheiten der Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung achtet, um die Kosten für die Unternehmen in Grenzen zu halten und diese zusätzliche Säule der Altersvorsorge nicht zu entwerten oder zu gefährden.
- 19. Der Bundesrat stellt fest, dass die Möglichkeit, Betriebstreue honorieren zu können, für Arbeitgeber ein wesentliches Motiv für die Gewährung von Betriebsrenten darstellt. Daher darf dieser unternehmerisch erwünschte Aspekt in der Debatte nicht außer Acht gelassen werden.
- 20. Der Bundesrat weist darauf hin, dass für die betriebliche Altersversorgung in Deutschland ein hohes Maß an Sicherheit gewährleistet ist. Er merkt in Bezug auf Pensionsfonds, verstanden als Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung im Sinne der IORP-Richtlinie, zu denen in Deutschland Pensionskassen und als Pensionsfonds bezeichnete Altersversorgungsträger gehören, an, dass unter anderem Pensionskassen der Versicherungsaufsicht unterstehen. Bei den hiesigen Pensionsfonds wiederum, die ohne Gewinnerzielungsabsicht betrieben werden, und bei denen ihre Trägerunternehmen die Verwaltungskosten tragen und außerdem subsidiär haften, leisten die Unternehmen erhebliche Pflichtbeiträge zur Insolvenzsicherung in den Pensionssicherungsverein. Aufgrund dieser Ausgestaltung sieht der Bundesrat kein Erfordernis für eine weitere Reglementierung durch die EU.
- 21. Der Bundesrat teilt im Hinblick auf die Notwendigkeit zusätzlicher freiwilliger Altersvorsorge die Einschätzung, dass in diesem Zusammenhang für fundierte Entscheidungen der Menschen größtmögliche Transparenz und umfassende Informationen notwendig sind. Denn fehlendes Wissen erhöht nicht nur die Unsicherheit, sondern auch die Gefahr eines zu geringen Alterseinkommens. Es liegt im eigenen Interesse der einzelnen Mitgliedstaaten, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Eigenverantwortlichkeit für die Altersvorsorge stärken.
- 22. Beispielhaft können hier für Deutschland die Bildungsinitiativen "Altersvorsorge macht Schule" (www.altersvorsorgemachtschule.de), "PROSA - Pro Sicherheit im Alter" (www.prosabw.de), Altersvorsorge Regional (www.masgff.rlp.de/sozialversicherungen/Alterssicherung/altersvorsorgeregional) sowie die Infoportale www.ihrevorsorge.de und www.infonetzaltersvorsorge.de genannt werden.
- 23. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission. B
- 24. Der Wirtschaftsausschuss und der Ausschuss für Frauen und Jugend empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß § § 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.
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- 25. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS) und der Ausschuss für Familie und Senioren (FS) empfehlen dem Bundesrat ferner, zu der Vorlage folgende Entschließung zu fassen:
Der Bundesrat hat zu dem Grünbuch eine Stellungnahme gegenüber der Kommission abgegeben. Ergänzend zu der Diskussion auf europäischer Ebene weist er für die nationale Diskussion auf Folgendes hin:
Dem Thema Altersarmut wird in der politischen Diskussion in Deutschland nicht immer die ihm gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Damit auch in Zukunft Altersarmut wirksam verhindert werden kann, wird sich nach dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP für die 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages eine Kommission mit der Weiterentwicklung des Alterssicherungssystems befassen.
Der Bundesrat weist darauf hin, dass bundesgesetzliche Regelungen zur Alterssicherung, insbesondere zur gesetzlichen Rentenversicherung, sich langfristig auch auf die Ausgaben der Länder und Kommunen für Leistungen der Grundsicherung auswirken. Er fordert daher die Bundesregierung auf, entsprechend dem einstimmigen Beschluss der 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz die Länder an der vorgesehenen Kommission zur Reform der Alterssicherung zu beteiligen.
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum Grünbuch gegenüber der Kommission nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erhöhung des Renteneintrittsalters die wachsende Bedeutung von Prävention und Rehabilitation hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund schlägt der Bundesrat der Bundesregierung vor, in der genannten Kommission über die im Koalitionsvertrag vorgesehenen und von der 86. Arbeits- und Sozialministerkonferenz genannten Themen hinaus auch zu prüfen, ob bestehende Deckelungen von Ausgaben für Leistungen zur Teilhabe (z.B. § 220 Absatz 1 SGB VI) noch sachgerecht sind, zumindest aber so anzupassen sind, dass dem gestiegenen Bedarf an Prävention und Rehabilitation für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Rechnung getragen werden kann.