Der Bundesrat hat in seiner 942. Sitzung am 26. Februar 2016 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das mit der Richtlinie verfolgte Ziel der Förderung des freien Verkehrs von barrierefreien Produkten und Dienstleistungen und die hierfür beabsichtigte Angleichung der betroffenen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten.
- 2. Er begrüßt insbesondere das Ziel der Kommission, mit dem Richtlinienvorschlag die Rechte von Menschen mit Behinderung zu fördern und zu schützen. Barrierefreiheit leistet einen wichtigen Beitrag zu einer umfassenden Teilhabe und einem selbstbestimmten Leben von Menschen mit Behinderung. Aus diesem Grund werden Verbesserungen bei der Barrierefreiheit von gewissen ausgewählten Produkten und Dienstleistungen in der EU grundsätzlich befürwortet. Von der mit dem Richtlinienvorschlag bezweckten größeren Auswahl dieser Produkte und Dienstleistungen zu günstigeren Preisen würden Menschen mit Behinderung in der EU genauso wie ältere Menschen oder Menschen mit vorübergehenden Einschränkungen profitieren.
- 3. Neue Vorgaben zur Barrierefreiheit sind allerdings für Unternehmen regelmäßig mit erheblichem Aufwand (in Form von technischen Anpassungen und zusätzlichen bürokratischen Lasten) verbunden. Der europäische Normgeber muss dabei stets den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Blick haben. In der Folgenabschätzung müssen Kosten und Nutzen der Maßnahmen abgewogen werden. Der Bundesrat bedauert, dass bisher keine qualifizierte Folgenabschätzung vorgelegt wurde, die eine ökonomische Analyse der geplanten Richtlinie erlaubt. Er ist der Auffassung, dass der potentielle Aufwand für private Unternehmen stärker berücksichtigt werden muss.
- 4. Der von der Kommission gewählte Ansatz, bei den Barrierefreiheitsanforderungen einheitliche Ziele und allgemeine Regeln zu formulieren und die Art und Weise der Erfüllung dieser Vorgaben den Mitgliedstaaten zu überlassen, wird grundsätzlich positiv beurteilt. Die genaue Ausgestaltung der harmonisierten Anforderungen wird im weiteren Verfahrensverlauf kritisch zu verfolgen sein, insbesondere nach möglichen Reaktionen von Betroffenen mit Blick auf deren Bedürfnisse.
- 5. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die in Artikel 2 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags vorgesehene Begriffsbestimmung sehr weitgehend ist, da keinerlei Einschränkungen vorgesehen sind. Er ist der Auffassung, dass ein Begriff der Barrierefreiheit, ähnlich dem im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) oder den Landesbehindertengleichstellungsgesetzen, der der Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Behinderungen umfassend Rechnung trägt und damit auch mit der UN-Behindertenrechtskonvention im Einklang steht, vorzugswürdig ist. Danach sind barrierefrei bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Der Begriff der Barrierefreiheit nach dem Richtlinienvorschlag sollte nicht weitergehen, als der nach dem deutschen Recht geltende Begriff im Behindertengleichstellungsrecht.
- 6. Verpflichtungen zur barrierefreien Gestaltung von Webseiten und grafischen Programmoberflächen, wie sie in Deutschland nur für öffentliche Stellen nach § 11 BGG und der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV 2.0) zwingend gelten, sollen auch auf Online-Shops ausgeweitet werden. Gerade für Kleine und Mittlere Unternehmen (KMU) im Bereich E-Commerce bedeutet dies einen erheblichen Verwaltungsaufwand, der diese massiv am Markteintritt hindert und negative Auswirkungen auf ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit hat. Dies wird weder in der Folgenabschätzung noch im Regelungsvorschlag ausreichend berücksichtigt. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass die Belange von KMU im Bereich E-Commerce stärker Berücksichtigung finden sollten, etwa in Form von entsprechenden Ausnahmeregelungen.
- 7. Unter Maßgabe der medien- und kulturpolitischen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nimmt der Bundesrat zu den Plänen der Kommission wie folgt Stellung:
- - Der Geltungsbereich der vorgeschlagenen Richtlinie, Kapitel I Artikel 1 Absatz 2 Buchstaben b und e, bezieht die audiovisuellen Mediendienste sowie E-Books vollumfänglich ein. Audiovisuelle Mediendienste unterliegen der medien- und kulturpolitischen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für Informations- und Medienfreiheit, des Medienpluralismus und der kulturellen Vielfalt.
- - Für die audiovisuellen Mediendienste ist daher die Richtlinie 2010/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. März 2010 über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-Richtlinie) als Spezialnorm einschlägig. Die Bundesregierung und die deutschen Länder haben sich im Rahmen des Konsultationsverfahrens bei der Kommission zur Novellierung der AVMD-Richtlinie dafür ausgesprochen, mithilfe regulatorischer Anreizmodelle (Privilegierung) entsprechende Investitionen und verstärkte Anstrengungen in die zusätzliche Förderung der Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts zu ermöglichen. Der allein restriktiv orientierte Ansatz in der vorgeschlagenen Richtlinie widerspricht dem zugrundeliegenden Gedanken der Anreizregulierung und hindert die Sicherung von kultureller Vielfalt im Bereich der audiovisuellen Medien.
- - Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf, die Kultur- und Medienhoheit der Länder durch eine Kultur- und Medienausnahme in der vorgeschlagenen Richtlinie zu wahren und die Barrierefreiheit für den Bereich der audiovisuellen Medien unter Berücksichtigung regulatorischer Anreizmodelle entsprechend in der Spezialnorm der AVMD-Richtlinie zu regeln.
- 8. Die Geltung der Richtlinie im Hinblick auf die Struktur- und Investitionsfonds (ESI-Fonds) gemäß Artikel 1 Absatz 3 Buchstabe b des Richtlinienentwurfs ist unausgereift und wird von der angegebenen Rechtsgrundlage Artikel 114 Absatz 1 AEUV nicht getragen. Vorgaben für Strukturfonds sind auf Grundlage von Artikel 177 AEUV zu erlassen.
Die mit der vorgeschlagenen Richtlinie verfolgte Konkretisierung der Barrierefreiheitspflichten im Bereich der ESI-Fonds (vergleiche Ziffer 3.5 der Begründung des Richtlinienvorschlags) sollte vielmehr systemimmanent durch den Erlass von Leitlinien der Kommission zur Auslegung des Gemeinsamen Strategischen Rahmens (Anhang I zur Verordnung (EU) Nr. 1303/2013) erfolgen, schon um Systembrüche und Rechtsunsicherheit zu vermeiden.
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, sich in den weiteren Verhandlungen dafür einzusetzen, dass die Regelungen für die ESI-Fonds im Richtlinienvorschlag nicht weiter verfolgt werden.
- 9. Für den Fall, dass die Regelungen im Hinblick auf die ESI-Fonds im Richtlinienvorschlag verbleiben, bittet der Bundesrat darum, folgende Punkte zu beachten:
- - Es sollte im Richtlinientext selbst und nicht nur in der Begründung zum Geltungsbereich des Vorschlags klargestellt werden, dass die neuen Vorgaben nach Anhang I Abschnitt IX des Richtlinienvorschlags den Anwendungsbereich des Gemeinsamen Strategischen Rahmens (siehe oben) nicht erweitern. Zur Barrierefreiheit regelt Ziffer 5.4 des Gemeinsamen Strategischen Rahmens, dass die Verwaltungsbehörden während der gesamten Programmlaufzeiten durch Maßnahmen sicherzustellen haben, dass alle Produkte, Waren, Dienstleistungen und Infrastrukturen, die der Öffentlichkeit offenstehen bzw. ihr zur Verfügung stehen und aus den ESI-Fonds kofinanziert werden, gemäß dem anzuwendenden Recht allen Bürgerinnen und Bürgern - auch solchen mit einer Behinderung - zugänglich sind. Diese zur Sicherung der Verhältnismäßigkeit nötigen Eingrenzungen (öffentliche Widmung, Geltung im Rahmen des anzuwendenden Rechts) dürfen durch die Konkretisierungsvorgaben des Richtlinienvorschlags nicht in Frage gestellt werden.
- - Kapitel VII des Richtlinienvorschlags sollte auf die ESI-Fonds keine Anwendung finden. Die Rechtsfolgen dieses Kapitels VII (unter anderem Umsetzungsvorgaben, Sanktionierungen) passen nicht auf die (längst abgeschlossene) Erarbeitung und die Umsetzung der Operationellen Programme der ESI-Fonds und sind daher unklar und unvorhersehbar. Die Geltungsanordnung widerspricht auch der Begründung des Vorschlags, wonach der Vorschlag lediglich einer Konkretisierung von vorhandenen Barrierefreiheitsanforderungen (unter anderem der in den ESI-Fonds) dient. Hier scheint der Richtlinienvorschlag nicht ausgereift.
- - Der Bundesrat hält es nicht für erforderlich, den für die Vorbereitung und Umsetzung der ESI-Fonds-Programme zuständigen Behörden die Pflicht aufzuerlegen, einen Verzicht auf Barrierefreiheitsanforderungen sowie die diesem zugrunde liegenden Überlegungen an die Kommission zu melden. Die unter Ziffer 13 aufgestellte Forderung nach einer Streichung dieser Meldefrist gilt daher auch im Hinblick auf die ESI-Fonds.
- - Die Kommission hat sich die Vereinfachung und den Bürokratieabbau in den ESI-Fonds zum Ziel gesetzt. Die Kommission wird daher gebeten, eine detaillierte Folgenabschätzung des Richtlinienvorschlags auch für die ESI-Fonds vorzulegen.
- 10. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, sich im Verlauf der Verhandlungen in den Gremien der EU dafür einzusetzen, dass die vergaberechtlichen Regelungen im Richtlinienvorschlag nicht weiter verfolgt werden.
- 11. Die Regelungen zu Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen sind in den jeweiligen Fachregelungen enthalten und können dort angepasst werden. Aus diesen Regelungen ergeben sich für die fachlich zuständigen Bereiche die Pflichten zur Beachtung der Anforderungen bei der Beschaffung von Produkten und Dienstleistungen. Weitergehende Regelungen im öffentlichen Beschaffungswesen - wie in dem Richtlinienvorschlag angelegt - sind darüber hinaus nicht erforderlich und zu vermeiden.
- 12. Neue Rechtsakte im Bereich des Vergaberechts sind vor dem Hintergrund der zum 18. April 2016 umzusetzenden Vergaberichtlinien darüber hinaus nicht zu rechtfertigen. Das europäische Vergaberecht trifft an verschiedenen Stellen Vorgaben zur Barrierefreiheit und ermöglicht den öffentlichen Auftraggebern die Vorgabe entsprechender Kriterien. Zudem berücksichtigen die Vergaberichtlinien das von der Kommission in der vorgeschlagenen Richtlinie zur Begründung angeführte Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausdrücklich (vergleiche zum Beispiel Erwägungsgrund 3 der Richtlinie 2014/24/EU). Bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist weitere Vorgaben für das Vergabeverfahren vorzuschlagen, ohne praktische Erfahrungen nach der Umsetzung vorweisen zu können, ist daher verfrüht und abzulehnen.
- 13. Der Bundesrat hält es nicht für erforderlich, öffentlichen Auftraggebern die Pflicht aufzuerlegen, einen Verzicht auf Barrierefreiheitsanforderungen und die diesem zugrunde liegenden Überlegungen an die Kommission zu melden.
Artikel 22 Absatz 4 des Richtlinienvorschlags legt insoweit eine Meldepflicht der zuständigen Behörde fest, wenn der öffentliche Auftraggeber zur Vermeidung einer unverhältnismäßigen Belastung auf die Anwendung der Barrierefreiheitsanforderungen verzichtet hat. Aus einer solchen Verpflichtung würde sich ein unverhältnismäßiger Verwaltungsaufwand ergeben, was der allgemeinen Zielsetzung, Verwaltungsverfahren und Verfahren zur Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu erleichtern sowie Meldepflichten auf das erforderliche Maß zu beschränken, zuwiderliefe.
Der Bundesrat bittet die Bundesregierung daher, in den weiteren Verhandlungen auf eine Streichung der Meldepflicht nach Artikel 22 Absatz 4 zu dringen.
- 14. Zudem ist die Sanktionierung von Verstößen (Artikel 26) vorgesehen, welche neben der vorgesehenen Regelung zur Durchsetzung vor Gericht oder Verwaltungsbehörden gemäß Artikel 25 steht. Beides trifft insbesondere die Vergabestellen. Die Regelung zur Durchsetzung kann hinsichtlich der öffentlichen Aufträge zu einem parallelen System des Nachprüfungswesens führen. Schließlich ist der Kreis der Berechtigten nach Artikel 25 deutlich weiter gefasst (unter anderem Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Verbände) als in Nachprüfungsverfahren vor Vergabekammern.
- 15. Aus Sicht des Bundesrates ist es vor dem Hintergrund insbesondere der technologischen Weiterentwicklung wichtig zu gewährleisten, dass diese harmonisierten Barrierefreiheitsanforderungen fortentwickelt werden können. Insofern spricht sich der Bundesrat dafür aus, in Artikel 28 des Richtlinienvorschlags deutlicher zu formulieren, dass die Richtlinie entsprechend dem ständigen Streben der Kommission nach besserer Rechtsetzung regelmäßig überprüft wird. Der Bundesrat weist darauf hin, dass bei der Fortentwicklung der Barrierefreiheitsanforderungen nach dem in Artikel 4 Absatz 3 UN-Behindertenrechtskonvention verankerten Grundsatz der Partizipation die intensive Einbeziehung von Menschen mit Behinderung sichergestellt sein muss. Dies gilt auch für den möglichen Erlass detaillierterer Barrierefreiheitsanforderungen durch Durchführungsrechtsakte nach Artikel 14 Absatz 1 des Richtlinienvorschlags.