Wissenschaftliche Stellungnahme zur Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung "Erkrankungen der Halswirbelsäule durch Tragen schwerer Lasten auf der Schulter"
Vom 1. Dezember 2016 (GMBl. Nr. 2 vom 31.01.2017 S. 29, ber. S. 127)
Der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat in seiner Sitzung am 14. Juni 2016 die nachstehende wissenschaftliche Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung beschlossen:
Wissenschaftliche Stellungnahme
zu der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung "Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können"
Die Begründung und das Merkblatt zu der Berufskrankheit Nr. 2109 (BK-Nr. 2109) sowie die Rechtsprechung enthalten folgende Angaben zu den Gefahrenquellen für die Entstehung dieser Berufskrankheit:
Für Verschleißschäden an der Halswirbelsäule und für Halswirbelsäulensyndrome durch langjähriges Tragen von Lasten ist als typische Berufsgruppen auf Fleischträger in Schlachthäusern hinzuweisen, die Lasten auf der Schulter oder über Kopf unter Zwangshaltung im Bereich der Halswirbelsäule und maximaler Anspannung der Nackenmuskulatur transportieren. Ähnliche Belastungen treten beim Tragen von schweren Säcken auf der Schulter, z.B. bei Lastenträgern, auf (Amtliche Begründung der Bundesregierung zur BK-Nr. 2109, Bundesrats-Drucksache 773/92, Seite 9, Absatz 3).
Ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Halswirbelsäule ist anzunehmen, wenn Lastgewichte von 50 kg und mehr regelmäßig auf der Schulter getragen werden (Merkblatt der Bundesregierung zu der BK-Nr. 2109, Bundesministerium für Arbeit 1993).
Langjährig bedeutet, dass zehn Berufsjahre als die im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeiten nach den vorgenannten Kriterien zu fordern sind. In begründeten Einzelfällen kann es jedoch möglich sein, dass bereits eine kürzere, aber sehr intensive Belastung eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Halswirbelsäule verursacht (Bundesministerium für Arbeit 1993). Das Bundessozialgericht hat im Urteil vom 4. Juli 2013 (Az.: B 2 U 11/12 R) hierzu präzisiert, dass es sich bei der Zehn-Jahre-Regel um keine starre Untergrenze handelt. Wird allerdings eine Belastungsdauer von acht Jahren nicht erreicht, ist die BK-Nr. 2109 ausgeschlossen (Nr. 15, Ziffer 2 der Urteilsbegründung).
Das genannte Lastgewicht muss mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten getragen worden sein (Bundesministerium für Arbeit 1993). Der unbestimmte Rechtsbegriff zur Belastungshäufigkeit im Amtlichen Merkblatt der Bundesregierung zur BK-Nr. 2109 in Form der geforderten "gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten" in Bezug auf das Tragen von Lasten mit einem Lastgewicht von 50 kg wird von den Unfallversicherungsträgern und in der Rechtsprechung unterschiedlich interpretiert. Einige Berufsgenossenschaften verlangen für die Bejahung der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entwicklung einer BK-Nr. 2109 eine langjährige Einwirkung durch Tragen schwerer Lasten mit einem Lastgewicht von mindestens 50 kg während eines Schichtanteils von mindestens einem Drittel der Arbeitsschicht. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg ist in dem Urteil vom 11. November 1998 (Az.: L 2 U 883/93) zu dem Ergebnis gekommen, dass die im Merkblatt zur BK-Nr. 2108 angegebene Anzahl von 40 Hüben je Arbeitsschicht auch für Belastungen im Sinne der BK-Nr. 2109 zu Grunde zu legen sei. Das Landessozialgericht Berlin hat im Urteil vom 17. August 2000 (Az.: L 3 U 81/97) den unbestimmten Rechtsbegriff der "gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten" im Sinne des Merkblattes zur BK-Nr. 2109 nur dann als gegeben angesehen, sofern pro Arbeitsschicht mindestens eine Stunde lang Lasten von 50 kg und mehr auf der Schulter getragen worden sind. Das Bundessozialgericht kam mit Urteil vom 4. Juli 2013 (Az.: B 2 U 11/12 R) zu dem Ergebnis, dass sich eine Mindestexpositionsdauer von einer Stunde pro Tag weder den Materialien noch dem Merkblatt zur BK-Nr. 2109 noch sonstigen Hinweisen zur Auslegung des Tatbestandes der BK-Nr. 2109 entnehmen lasse.
Der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales vertritt zur erforderlichen Dauer der arbeitsbedingten Einwirkung im Sinne der BK-Nr. 2109 folgende Auffassung:
Ein unteres Abschneidekriterium für die erforderliche Dauer pro Schicht der arbeitsbedingten Einwirkung im Sinne der BK-Nr. 2109 ist mit folgender Begründung notwendig:
Es ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht begründbar, dass eine sehr kurzzeitige arbeitsbedingte Einwirkung im Sinne der BK-Nr. 2109 pro Schicht, z.B. das Tragen einer Schweinehälfte à 50 kg über zehn Meter pro Tag, entsprechend einer Einwirkungsdauer von ca. zehn Sekunden bis allenfalls ca. 20 Sekunden pro Tag, eine BK-Nr. 2109 verursachen soll.
Für die Präventionsabteilungen der Unfallversicherungsträger ist die Entwicklung einer Mindestvoraussetzung wünschenswert, um relevante von nicht relevanten arbeitsbedingten Einwirkungen im Sinne dieser Berufskrankheit unterscheiden zu können.
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