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43. TRK-Wert für 1,2-Dichlorethan:
(BArbBl. 9/93 S. 74)
20 mg/m3(5 ml/m3)
1,2-Dichlorethan ist im Verzeichnis der krebserzeugenden Gefahrstoffe bei Massengehalten> 1 % in Gruppe III (gefährdend) eingeordnet.
Arbeitsmedizinische Erfahrungen
Im Vordergrund der toxischen Wirkung von 1,2-Dichlorethan stehen nach oraler und inhalativer Aufnahme zentralnervöse Ausfallerscheinungen, die dosisabhängig nach einem Excitationsstadium in eine tödliche Narkose übergehen können. Bei tödlichen und schweren Vergiftungen beobachtete man schwere Leber- und Nierenschädigungen. Auch gastrointestinale Reizerscheinungen mit blutigen Durchfällen und abdominelle Koliken wurden beschrieben. Aus einer Untersuchung an 360 Arbeiterinnen ergaben sich Hinweise auf eine reproduktionstoxische Wirkung von 1,2-Dichlorethan. Es wurden vermehrt Aborte, Frühgeburten, Spätgestosen und Geburtskomplikationen beschrieben. Epidemiologische Untersuchungen zur krebsauslösenden Wirkung von 1,2-Dichlorethan sind bislang nicht publiziert worden [1].
Toxikologische Erfahrungen
1,2-Dichlorethan erwies sich in einigen Testsystemen als gentoxisch. Es bewirkt bei Salmonella typhimurium Ta 1530, Ta 1535 und Ta 100 Punktmutationen. Dieser Effekt ist jedoch nur schwach und wird auch durch das übliche metabolisch aktivierende System (Standard-S9-Mix) nicht wesentlich verstärkt, wohl dagegen durch Zugabe von Glutathion. Keine Mutagenität fand sich bei E. coli, Bacillus subtilis, Aspergillus nidulans, an Zwiebelwurzeln, im Host-mediated-assay, an menschlichen Lymphozyten und im Micronucleus-Test an Mäusen.
Weibliche F 344-Ratten wurden alternativ entweder gegenüber einer hohen Spitzenkonzentration von l,2-14C-Dichlorethan (bis ca. 4000 ml/m3) über einige Minuten exponiert oder vier Stunden gegenüber einer niedrigen Dauerkonzentration ( 70 ml/m3). Auf vergleichbare Dosen bezogen, wurden in den untersuchten Organen Leber und Lunge nach der hohen Kurzzeitexposition 40 x höhere Werte für die DNA-Bindung gefunden als nach der längeren niedrigeren Exposition. Die Autoren schließen daraus, daß die gentoxische Wirkung von 1,2-Dichlorethan weitgehend vom Expositionsprofil abhängig ist. Mit diesem Konzept in prinzipieller Übereinstimmung stehen Untersuchungen über die Gentoxizität von 1,2-Dichlorethan bei Mäusen. Die Autoren applizierten den Stoff an B6C3F1-Mäuse (p.o., i.p., inhalatorisch) und untersuchten Einzelstrangbrüche und Alkalilabilität der DNa der Leber. Solche DNA-Schäden ließen sich durch einmalige orale oder intraperitoneale Gaben nicht die Leber nekrotisierender Dosen von 1,2-Dichlorethan auslösen, nicht jedoch durch gleichförmige inhalatorische Gabe des Stoffes (4 Stunden Inhalation) bei Konzentrationen von 150 oder 500 ml/m3. Bei höheren (letalen) Konzentrationen (1000 bzw. 2000 ml/m3) wurden DNA-Schäden gefunden, deren Interpretation jedoch offenbleiben muß.
Je 50 männliche und weibliche Mäuse erhielten in einem Kanzerogenese-Versuch technisches 1,2-Dichlorethan 78 Wochen lang (5 mal wöchentlich) als ölige Lösung durch die Schlundsonde und wurden 12 bis 13 Wochen nachbeobachtet. Die mittleren Dosierungen betrugen für die männlichen Tiere 195 bzw. 97 mg/kg und für die weiblichen 299 bzw. 148 mg/kg Körpergewicht. Bei 31 % der männlichen Mäuse der hohen und bei 2 % der unteren Dosierung traten Lungenadenome auf. Bei den weiblichen Mäusen wurden bei beiden Dosierungen Lungenadenome beobachtet (31 bzw. 14 %, Kontrolle 5 %), darüber hinaus auch Adenocarcinome der Mamma (15 bzw. 18 %), Plattenepithelcarcinome des Vormagens (10 bzw. 4 %) sowie Adenocarcinome (9 bzw. 6 %) und Sarkome (6 bzw. 4 %) des Uterus.
In gleicher Weise wie die Mäuse wurden je 50 männliche und weibliche Ratten 69 Wochen lang behandelt und bis zu 32 Wochen nachbeobachtet. Die mittleren Dosierungen betrugen für die männlichen und weiblichen Tiere 95 und 47 mg/kg Körpergewicht. Dabei kam es bei den männlichen Ratten der oberen und unteren Dosierungsgruppe zu Plattenepithelcarcinomen des Vormagens (18 bzw. 6 %), Hämangiosarkomen der Milz (14 bzw. 18 %) und bei den Ratten beider Dosierungsgruppen außerdem zu subkutanen Fibromen (12 bzw. 10 %). Bei den weiblichen Ratten der oberen Dosierungsgruppe tragen Adenocarcinome der Mamma auf (36 %), sonst jedoch in dieser Gruppe keine signifikant erhöhten Tumorinzidenzen. Unter den behandelten Ratten wurden außerdem in geringer Zahl Hämangiosarkome in verschiedenen Organen beobachtet, nicht dagegen bei den Tieren der Kontrollgruppe. Nach diesen Ergebnissen hat sich 1,2-Dichlorethan bei oraler Gabe und unter den vorgelegten Versuchsbedingungen für Mäuse und Ratten als kanzerogen erwiesen.
In einer anderen Studie wurde reines 1,2-Dichlorethan (99,82 %) an Mäuse und Ratten per Inhalation verabreicht. Je 90 männliche und weibliche Mäuse inhalierten 78 Wochen lang (7 Stunden täglich, 5mal wöchentlich) 150, 50, 10 oder 5 ml/m3und wurden bis zu ihrem Lebensende nachbeobachtet. Es wurden in keiner der Dosierungsgruppen spezifische Tumoren oder Änderungen der normalerweise vorkommenden Tumorinzidenz beobachtet.
Unter gleichen Versuchsbedingungen wurde 1,2-Dichlorethan an je 90 männlichen und weiblichen Ratten geprüft. Auch bei diesen Tieren wurden in keiner der Dosierungsgruppen vermehrt Tumoren gefunden.
Im Falle des 1,2-Dichlorethan kommt es offenbar bei hohen Konzentrationsspitzen (auch solchen von nur wenigen Minuten Dauer) zu einer Absättigung des (entgiftenden) oxidativen mikrosomalen Stoffwechsels und zu einer Verstärkung des glutathionabhängigen Stoffwechselweges, welcher zur Bildung eines reaktiven Intermediates und zur DNA-Alkylierung durch diese führt. In dieser Beziehung verhalten sich offenbar beide bisher untersuchten Versuchstierspezies (Ratte und Maus) ähnlich. Damit in Übereinstimmung steht die systematische Kanzerogenität von 1,2-Dichlorethan bei oraler Gabe, während sich bei einer gleichmäßigeren Verteilung vergleichbarer Dosen per Inhalation keine krebserzeugende Wirkung nachweisen ließ [1].
Analytik
Zur Messung von 1,2-Dichlorethan in der Luft in Arbeitsbereichen stehen anerkannte kontinuierliche und diskontinuierliche Verfahren zur Verfügung. Für das kontinuierliche Verfahren (Prozeßchromatographie) beträgt die Nachweisgrenze 0,4 mg/m3 (0,1 ml/m3), für diskontinuierliche (Adsorption an Aktivkohle, Desorption und anschließende gaschromatographische Bestimmung) 0,08 mg/m3(0,02 ml/m3) für 10l Probeluft [2].
Herstellung und Verwendung
In Deutschland sind acht größere Hersteller und Verwender sowie zwei größere Verwender bekannt. Bei allen bekannten Herstellern wird 1,2-Dichlorethan durch Chlorierung von Ethylen gewonnen. Sieben Verwender setzen 1,2-Dichlorethan für die VC-Herstellung ein. 1,2-Dichlorethan wird im thermischen Spaltprozeß in VC und Chlorwasserstoff umgewandelt. Die übrigen bekannten Verwender setzen 1,2-Dichlorethan für die Herstellung von 1,1,1-Trichlorethan, für die Aminoproduktion oder als Lösungsmittel für die Wirkstoffsynthese bzw. allgemeine Chemieproduktion ein.
Ergebnisse der Arbeitsbereichsmessungen
Von sechs Herstellern und Verwendern sowie zwei Verwendern liegen insgesamt 1330 Werte von überwiegend personenbezogenen Messungen (76 %) vor. Die ortsbezogenen Messungen, die in Atemhöhe durchgeführt wurden, stellen keine worst-case Messungen dar. Die Auswertung nach TRGS 402 ergab, daß 20 % der Schichtmittelwerte größer als 10 mg/m3sind und 5 % über 20 mg/m3liegen.
Erfahrungsgemäß liegen in Anlagen zur Herstellung und Verwendung von 1,2-Dichlorethan Stoffgemische in der Luft in Arbeitsbereichen vor, wobei neben 1,2-Dichlorethan Vinylchlorid, Epichlorhydrin, 1,3-Butadien, 1,4-Dichlor-2-buten, Propylenoxid und Benzol zu beachten sind. Von den genannten Stoffen können insbesondere die Schichtmittelwerte von Vinylchlorid 10 % des TRK-Wertes übersteigen und sind daher in der Summenformel nach TRGS 403 zu berücksichtigen.
Von drei Herstellern und Verwendern liegen 27 Schichtmittelwerte diskontinuierlicher Parallelmessungen von 1,2-Dichlorethan und Vinylchlorid vor. Von einem weiteren Hersteller und Verwender sind 12 Schichtmittelwerte einer kontinuierlichen Überwachung der allgemeinen Raumluft für Vinylchlorid und 1,2-Dichlorethan bekannt. Die Auswertung der Schichtmittelwerte der diskontinuierlichen und kontinuierlichen Messungen nach TRGS 403 ergibt, daß bei einem Grenzwert von 10 mg/m3für 1,2-Dichlorethan in 33 % und bei einem Grenzwert von 20 mg/m3 in 23 % der Fälle eine Überschreitung des Bewertungsindexes für Stoffgemische vorliegt.
Bei einem Hersteller und Verwender von 1,2-Dichlorethan aus einem neuen Bundesland wird nach vorliegender Aktenlage selbst während des Normalbetriebs der TRK von 20 mg/m3nach TRGS 402/403 in ca. 30 % der Fälle typischerweise überschritten. Es wird empfohlen, für die fortlaufenden technischen Maßnahmen umgehend bei der zuständigen Aufsichtsbehörde eine Übergangsfrist zu beantragen. Der Aufsichtsbehörde wird empfohlen, die Übergangsfrist so einzuräumen, daß die besonderen Probleme der neuen Bundesländer hinsichtlich TRK-Einhaltung berücksichtigt werden.
Bei Reinigungs-. Reparatur-, Wartungsarbeiten in Anlagen zur Herstellung und Verwendung von 1,2-Dichlorethan wurden erhöhte Konzentrationen von 1,2-Dichlorethan festgestellt. Bei bestehenden Anlagen kann derzeit in der Regel der TRK-Wert von 20 mg/m3nicht eingehalten werden. Lassen sich die zur Umsetzung des TRK-Wertes in diesem Bereich notwendigen Maßnahmen nicht unverzüglich treffen, wird den Aufsichtsbehörden empfohlen, angemessene Übergangsfristen einzuräumen. Berufsgenossenschaften und Gewerbeaufsicht sollten gemeinsam geeignete arbeitsorganisatorische und sicherheitstechnische Maßnahmen vereinbaren.
In diesen Anlagen fallen Reinigungs-, Reparatur- und Wartungsarbeiten an bei:
Bisher liegen nur wenige Messungen von 1,2-Dichlorethan für die Arbeitsverfahren Reinigung, Reparatur und Wartung vor. Die vorliegenden Meßwerte geben die Situation für Arbeitsplätze mit Reinigungstätigkeiten wieder.
Von 23 personenbezogenen Schichtmittelwerten eines Herstellers und Verwenders liegen 26 % aller Werte bei 20-40 mg/m3und ebenfalls 26 % über 40 mg/m3. In diesem Zusammenhang sind von einem zweiten Hersteller und Verwender weitere Schichtmittelwerte bekannt:
Eine personenbezogene 8h-Messung während des Reinigungsverfahrens des Umlaufverdampfers einer Hochsiederkolonne mit handgeführter Wasser-Hochdrucklanze ergab 44 mg/m31,2-Dichlorethan.
Beim abgedeckten Reinigungsverfahren mit mechanisch geführter Lanze wurden bei einer personenbezogenen 8h-Messung 102 mg/m3gefunden. Beide Umlaufverdampfer der betreffenden Anlage zur Herstellung von Vinylchlorid wurden vor dem Öffnen eine Stunde mit Dampf mantelseitig angeheizt und dann produktseitig mit Stickstoff freigeblasen (Vorreinigung).
Eine personenbezogene 6h-Messung bei der manuellen Endreinigung der Hochsiederkolonne in der selben Anlage nach Trockenblasen mit Stickstoff (Dauer ca. 24 h) und Belüftung ergab 100 mg/m3aufgrund fester. poröser Ablagerungen. aus denen 1,2-Dichlorethan ausgast.
Die im Folgenden aufgeführten Ergebnisse der kontinuierlichen Messung der allgemeinen Raumluft bei Reparatur- und Wartungsarbeiten sind charakteristisch für die Exposition in angrenzenden Arbeitsbereichen. Von sechs Schichtmittelwerten zwischen 26 und 62 mg/m3einer Dauerüberwachung eines Verwenders liegt der Mittelwert bei 42 mg/m31,2-Dichlorethan. Die Dauer der Reparatur- und Wartungsarbeiten betrug zwischen 2 und 4 Stunden.
Diese Ergebnisse sind beispielhaft für Reinigungs-, Reparatur- und Wartungsarbeiten, z.B. routinemäßiges Wechseln, Umstellen von Pumpen. Filtern und Armaturen etc.
Da die vorliegenden Werte in den Bereich 20-40 mg/m3 mit erheblicher Schwankungsbreite und den Bereich > 40 mg/m3mit erhöhter Spitzenbelastung aufgeteilt werden können, ist von dem Personenkreis, der Reinigungsarbeiten ausübt. Atemschutz zu benutzen. In direkt angrenzenden Bereichen arbeiten typischerweise weitere Mitarbeiter, für die das ständige Tragen von Atemschutz aus arbeitsmedizinischen und ergonomischen Gründen äußerst problematisch wäre.
Literatur
[1] Henschler, D.: Gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe: Toxicologisch arbeitsmedizinische Begründung von MAK-Werten; Arbeitsstoff-Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Verlag Chemie, D-6940 Weinheim
[2] ZH 1/120.48 Von den Berufsgenossenschaften anerkannte Analysenverfahren zur Feststellung der Konzentration krebserzeugender Arbeitsstoffe in der Luft in Arbeitsbereichen, Carl Heymanns Verlag, Köln.
(Stand: 20.08.2018)
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