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59. Erläuterung zu 2,2'-Dichlordiethylsulfid

(BArbBl. 10/94 S. 132)


Ein TRK-Wert für 2,2'-Dichlordiethylsulfid wird nicht festgelegt. Es liegen keine Angaben zum Umgang mit diesem Gefahrstoff vor, da der Stoff zur Zeit keine technische Bedeutung hat.

2,2'-Dichlordiethylsulfid ist in der TRGS 905 "Verzeichnis krebserzeugender, erbgutverändemder oder fortplanzungsgefährdender Stoffe" als krebserzeugend - Kategorie 1 nach Anhang VI der Richlinie 67/548/EWG  - eingestuft. Zubereitungen sind als krebserzeugend im Sinne des § 35 Abs. 1 GefStoffV anzusehen, sofern der Massengehalt an 2,2'-Dichlordiethylsulfid> 0,01 % beträgt.

Arbeitsmedizinische Erfahrungen

Inhalativer und kutaner Kontakt mit dem auch als Kampfstoff "Lost" bekannten 2,2'-Dichlordiethylsulfid führt akut zu ausgedehnten meist mit Blasenbildung einhergehenden Defekten der Haut und hämorrhagischen Schleimhautläsionen der Atemwege und des Gastrointestinaltrakts. Der Pathomechanismus für die Blasenbildung ist derzeit nicht eindeutig geklärt (1). Lost wird perkutan über die Haut aufgenommen. Daneben beobachtet man auch ein Hyperpigmentation und ein Abstoßen der obersten Hautschichten (2).

Nach inhalativer Aufnahme von 2,2'-Dichlordiethylsufid wurden am Tracheobronchialsystem bei Überlebenden von Kampfeinsätzen im Iran-Irak-Konflikt Ulcera und stenosierende Strikturen wie auch erhebliche Gasaustauschstörungen beobachtet (3).

Als Spätschäden nach chronischer Exposition wurden bei Kriegsveteranen des 1. Weltkrieges, insbesondere aber bei Arbeitern der Kampfstoffproduktion, aus Deutschland, England und Japan erhöhte Inzidenzen bösartiger Tumoren besonders des Respirationstrakts beschrieben. Bei den untersuchten Kollektiven ist eine Mischexposition gegenüber anderen Lost-Derivaten nicht auszuschließen, so daß die beobachtete Tumorinduktion nicht allein dem 2,2'-Dichlordiethylsulfid zuzuschreiben ist.

In einer ersten englischen Studie wurde nur eine signifikante Überhäufigkeit von Larynxkarzinomen auf der Basis der Auswertung von 511 Exponierten beobachtet (4).

Die umfangreichste Studie wurde von Mitarbeitern der englischen Produktion von 2,2'-Dichlordiethylsulfid durchgeführt. Insgesamt wurde die Mortalität einer Gruppe von 2.498 Männer und 1.032 Frauen bis 1984 untersucht, die während des 2. Weltkrieges in der Produktion eingesetzt waren. Verglichen mit den Daten des nationalen Krebsregisters wurden gehäuft Karzinome des Larynx (beobachtet 11, erwartet 4.04), des Pharynx (beobachtet 15, erwartet 2,73), der Mundhöhle und der übrigen Anteile des oberen Respirationstakts (beobachtet 12, erwartet 4,29) gefunden. Auch für Lungenkarzinome beobachtete man ein erheblich höhere Erkrankungszahl (200 Fälle) als erwartet (138, 39 Fälle). Die Häufigkeit der Lungen- und Pharynxkarzinome wies eine enge Korrelation zur Beschäftigungsdauer auf (5).

Die Induktion bösartiger Tumoren der Haut im Sinne eines Narbenkarzinoms erscheint nach Beobachtungen großer Patientenzahlen, die mit einer Lostsalbe behandelt wurden, nicht hinreichend gesichert.

Toxikologische Erfahrungen

In verschiedenen Mutagenitäts-Kurzzeittests hat sich eine deutliche mutagene Wirkung von 2,2'-Dichlordiethylsulfid erwiesen. Die Substanz wirkt bei Mäusen nach intravenöser Injektion eindeutig tumorerzeugend im Bereich der Lungen (68 % Lungentumoren nach 4 Injektionen von je 0,25 ml einer 0,006 - 0,007 %igen Lösung; 13 % bei der Kontrolle). Nach einmaliger 15-minütiger inhalativer Exposition gegenüber einer Konzentration von etwa 1,25 ml/m3 ließ sich bei den exponierten Strain-A-Mäusen nicht nur eine reversible gut 20 %ige Gewichtsreduktion nachweisen. sondern bei 49 % der exponierten Tiere auch Lungentumoren im Vergleich zu 27 % bei den Kontrollmäusen. Längerfristige Tierexperimente mit unterschiedlichen Dosierungen wurden mit 2,2'-Dichlordiethylsulfid nicht durchgeführt. Untersuchungen bei anderen Tierarten fehlen.

Trotz der lückenhaften Erkenntnisse sprechen die durchgeführten Tierversuche für eine starke kanzerogene Potenz der Verbindung [6, 7].

Analytik

Für die Messung von 2,2'-Dichlordiethylsulfid kann folgendes Meßverfahren eingesetzt werden:

Die Probenahme mit Pumpe erfolgt durch Adsorption an 150 mg Tenax. Nach der thermischen Desorption wird die Bestimmung von 2,2'-Dichlordiethylsulfid gaschromatographisch unter Verwendung eines Elektroneneinfang- oder Flammenphotometer-Detektors durchgeführt. Die Bestimmungsgrenze liegt bei 40l Probeluft (Luftvolumenstrom: 1,5 l/h) bei 0,1 µg/m3 (Flammenphotometer-Detektor) bzw. 0,001 µg/ m3 (Elektroneneinfang-Detektor) [8].

Ergebnisse von Arbeitsbereichsmessungen

Dem Ausschuß für Gefahrstoffe sind keine Arbeitsbereiche bekannt geworden, in denen mit diesem Stoff umgegangen wird. Ergebnisse von Arbeitsbereichsmessungen liegen daher nicht vor. Zu einer Exposition gegenüber 2,2'-Dichlordiethylsulfid kann es jedoch bei der Sanierung von Rüstungsaltlasten kommen.

Hinweise

Neben der inhalativen Aufnahme kann 2,2'-Dichlordiethylsulfid auch über die Haut aufgenommen werden. Dem ist auch bei Ausschöpfung der technischen Möglichkeiten zusätzlich durch geeignete Körperschutzmaßnahmen Rechnung zu tragen (weitere Hinweise: TRGS 150 "Unmittelbarer Hautkontakt mit Gefahrstoffen").

2,2'-Dichlordiethylsulfid darf nur in geschlossenen Anlagen und Einrichtungen verwendet werden. Gemeint sind beispielsweise Einrichtungen und Anlagen, bei denen durch eine Kapselung auszuschließen ist, daß der Stoff in die Umgebung austreten kann bzw. die an eine Absauganlage angeschlossen sind, die mit Unterdruck betrieben wird. Bei der Verwendung in kleinen Mengen ist ein Handschuhkasten (glove box) mit Absaugeinrichtung zu verwenden. Bei Arbeiten mit diesem Gefahrenstoff ist aus Gründen der Prävention, z.B. Schutz vor unvorhersehbaren Ereignissen, Vollschutz zu tragen.

Bei Altlasten und Sanierungsarbeiten ist in Abstimmung mit Behörden, ggf. Dienststellen der Bundeswehr. ein Schutzmaßnahmenkonzept abzustimmen.

Literatur

[1] Cowan, F.M., Brommfield, C. A., Smith, W.J. Inhibition of sulfur mustard-increased protease activity by niacinamide, N-acetyl-L-cysteine or dexamethasone Cell biology and toxikology 8, 129-38 (1992)

[2] Momeni, A. Z., Enshaeih, S., Meghdadi, M., Amindjavaheri, M. Skin manifestations of mustard gas - a clinical study of 535 patients Arch. dermatology 128, 775-780 (1992)

[3] Freitag, L., Firusian, N., Stamatis. G., Greschuchna, D.; The role of bronchoscopy in pulmonary complications due to mustard gas inhalation Chest 100, 1436-1441 (1991)

[4] Manning, K.P., Skegg, D. C., Stell, P. M., Doll. R.; Cancer of the larynx and other occupational hazards of mustard gas workers; Clin. otolaryngology 6, 165-170 (1981)

[5] Easton, D. F., Peto, J., Doll, R.; Cancers of respiratiory tract in mustard gas workers Brit. J. ind. Med. 45, 652-659 (1988)

[6] Henschler, D. (Hg): "Gesundheitsschädliche Arbeitsstoffe" Toxikologisch-arbeitsmedizinische Begründung von MAK-Werten, Arbeitsstoff-Kommission der DFG. Verlag. Chemie, Weinheim

[7] IARC Monographs on the Evaluation of Carcinogenic Risk of Chemicals to Man. Vol. 9. 1975

[8] private Mitteilung. Weitere Angaben zum Meßverfahren können unter folgender Anschrift erhalten werden:

Wehrwissenschaftliche Dienststelle der Bundeswehr für ABC-Schutz
Postfach 1142
29623 Münster

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