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Regelwerk, Arbeitsschutz; Arbeits- und Sozialrecht, BKV

Wissenschaftliche Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 1302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung
"Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe"
Nierenkrebs durch Trichlorethen

Vom 1. Februar 2018
(GMBl Nr. 12/13 vom 06.04.2018 S. 220)



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- Bek. d. BMAS v. 1.2.2018 - IVa 4-45222 - 1302 -

Der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat am 10. November 2017 die nachstehende wissenschaftliche Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 1302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung beschlossen:

Wissenschaftliche Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 1302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung "Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe" - Nierenkrebs durch Trichlorethen

1. Gefahrenquellen

Trichlorethen wurde in der Vergangenheit u. a. in folgenden Bereichen eingesetzt (IARC 2014):

2. Aufnahme und Metabolisierung

Trichlorethen wird über die Atmung und die Haut aufgenommen. Trichlorethen wird überwiegend oxidativ metabolisiert und als Trichloressigsäure und Trichlorethanol im Harn ausgeschieden. Daneben gibt es in geringerem Umfang bei Einwirkung einer hohen Trichlorethendosis auch einen reduktiven Metabolismus, der zur Ausscheidung von geringen Konzentrationen von 1,2- und 2,2-Dichlorvinyl-Nacetylcystein führt (Deutsche Forschungsgemeinschaft 1996, Brüning und Bolt 2000).

3. Gentoxische Wirkung von Trichlorethen

Die gegenwärtige Studienlage lässt eine eindeutige Aussage, ob Trichlorethen gentoxisch wirkt und vermehrt zu Chromosomenaberrationen, Schwesterchromatidaustausch oder einer Mutation in dem Hippel-Lindau-Tumor-Suppressor-Gen führt, nicht zu. Dagegen besteht starke Evidenz, dass der Trichlorethen-Metabolit 1,2-Dichlorvinyl-N-Acetylcystein mutagen und gentoxisch wirkt (IARC 2014).

4. Erkenntnisse zur krebserzeugenden Wirkung

4.1 Krebserzeugende Wirkung in tierexperimentellen Studien

Es besteht ausreichende Evidenz für die Annahme einer krebserzeugenden Wirkung von Trichlorethen in tierexperimentellen Studien, darunter u. a. im Bereich der Niere (IARC 2014).

4.2 Epidemiologische Studien

4.2.1 Systematische Reviews

Siegel Scott und Jinot (2011) legten einen systematischen Review über 11 Kohorten- und 13 Fall-Kontrollstudien vor. Für Nierenkrebs fand sich ein relatives Risiko in der Metaanalyse in Höhe von 1,27 (95 %-Konfidenzintervall [KI] 1,13 - 1,43). In den zehn Studien mit Angabe einer Dosis-Wirkungs-Beziehung fand sich in der höchsten Dosiskategorie ein relatives Risiko in der Metaanalyse in Höhe von 1,58 (95 %-KI 1,28 - 1,96).

Karami et al. (2012) veröffentlichte eine Metaanalyse über 15 Kohorten- und 13 Fall-Kontrollstudien über den Zusammenhang zwischen Trichlorethen und Nierenkrebs. Das kombinierte relative Risiko in Kohorten- und Fall-Kontrollstudien war 1,41 (95 %-KI 1,16 - 1,70). In Fall-Kontrollstudien lag das kombinierte relative Risiko für Beschäftigte mit hoher Trichlorethen-Exposition bei 1,96 (95 %-KI 1,24 - 3,08) und bei Beschäftigten mit niedriger Trichlorethen-Exposition bei 1,55 (95 %-KI 1,05 - 2,28).

4.2.2 Epidemiologische Studien mit Angaben zur Dosis-Wirkungs-Beziehung

4.2.2.1 Kohortenstudien

Zhao et al. (2005) beschrieben in einer Kohortenstudie bei 5.049 Beschäftigten in der amerikanischen Flugzeugindustrie einen signifikanten Zusammenhang zwischen der beruflichen Exposition mit Trichlorethen, die mit Hilfe einer Berufs-Expositions-Matrix ermittelt wurde und der Nierenkrebsinzidenz. Die Matrix basierte auf einer Experteneinstufung ohne innerbetriebliche Trichlorethen-Raumluftmessungen. Im Vergleich zu Beschäftigten mit niedriger Trichlorethenexposition war die Nierenkrebsinzidenz bei Beschäftigten mit mittelgradiger Exposition um den Faktor 1,87 (95 %-KI 0,56 - 6,20) und bei Beschäftigten mit hoher Exposition signifikant um den Faktor 4,9 (95 %-KI 1,23 - 19,6) erhöht (p für den Trend < 0,05).

4.2.2.2 Fall-Kontrollstudien

Vamvakas et al. (1998) legten eine Krankenhausbasierte Fall-Kontrollstudie bei 58 Fällen mit Nierenkrebs und 84 Kontrollprobanden aus unfallchirurgischen Abteilungen vor. Die Trichlorethen-Exposition wurde in niedrig, mittelgradig und hoch nach einer Expertenbewertung eingestuft. Das relative Risiko lag bei niedrig exponierten Beschäftigten bei 6,6 (95 %-KI 0,5 - 87,8), bei mittelgradig exponierten Beschäftigten bei 11,9 (95 %-KI 2,6 - 55,5) und bei hochgradig exponierten Beschäftigten bei 11,4 (95 %-KI 2,0 - 66,8).

Pesch et al. (2000) veröffentlichten eine Fall-Kontrollstudie bei 935 Fällen mit Nierenkrebs und 4.298 Bevölkerungskontrollen in Deutschland. Bei Männern mit mittelgradiger Trichlorethen-Exposition nach Experteneinstufung lag das relative Risiko für Nierenkrebs bei 1,3 (95 %-KI 1,0 - 1,8), bei hoher Trichlorethen-Exposition bei 1,1 (95 %-KI 0,8 - 1,5) und bei substantieller Expositionshöhe bei 1,3 (95 %- KI 0,8 - 2,1). Bei Frauen lauteten die relativen Risiken für die jeweiligen Expositionskategorien 1,3 (95 %-KI 0,7 - 2,6), 0,8 (95 %-KI 0,4 - 1,9) und 1,8 (95 %-KI 0,6 - 5,0). Die oben genannten Expositionskategorien entsprachen dem 30., 60. und 90. Perzentil der Exposition der Kontrollprobanden.

Brüning et al. (2003) berichteten über eine Krankenhaus-basierte Fall-Kontrollstudie bei 134 Fällen mit Nierenkrebs und 401 Kontrollprobanden aus den chirurgischen Abteilungen derselben Krankenhäuser. Das relative Nierenkrebsrisiko von Trichlorethen-exponierten Beschäftigten mit einer Expositionsdauer von unter zehn Jahren lag bei 3,78 (95 %-KI 1,54 - 9,28), bei 10 - < 20-jähriger Exposition bei 1,8 (95 %-KI 0,67 - 4,79) und bei mindestens 20-jähriger Expositionsdauer bei 2,69 (95 %-KI 0,84 - 8,66).

Charbotel et al. (2006) veröffentlichten die Ergebnisse einer Fall-Kontrollstudie bei 87 Fällen mit Nierenkrebs und 316 Bevölkerungskontrollen in Frankreich. Bei Beschäftigten mit niedriger Trichlorethen-Exposition nach Experteneinstufung zeigte sich ein um den Faktor 1,62 (95 %-KI 0,75 - 3,47) erhöhtes relatives Risiko, das für Rauchen und Körpergewicht adjustiert war, bei mittelgradiger Exposition ein relatives Risiko von 1,15 (95 %-KI 0,47 - 2,77) und bei hochgradiger Exposition von 2,16 (95 %-KI 1,02 - 4,60). Es bestand ein signifikanter Trend zwischen der Höhe der Trichlorethenexposition und dem Nierenkrebsrisiko.

Moore et al. (2010) legten eine Krankenhaus-bezogene FallKontrollstudie bei 1.097 Krankenhaus-bezogenen Fällen mit Nierenkrebs in Osteuropa (Polen, Rumänien, Russland und Tschechien) und 1.476 Krankenhaus-Kontrollen vor. Bei Beschäftigten mit einer Trichlorethen-Dosis nach Experteneinteilung unterhalb von 1,58 ppm x Jahre war das Nierenkrebsrisiko um den Faktor 1,77 erhöht (95 %-KI 0,64 - 4,80) und bei einer Trichlorethen-Dosis oberhalb von 1,58 ppm x Jahre um 2,33 (95 %-KI 1,07 - 4,69). Es bestand ein signifikanter Trend zwischen der Höhe der Trichlorethen-Dosis und dem Nierenkrebsrisiko. Wenn man die Fälle und Kontrollen aufteilt in Bezug auf den Gentyp betreffend das Enzym Glutathion-S-Transferase findet sich das erhöhte Nierenkrebsrisiko ausschließlich bei Probanden mit mindestens einem intakten Allel bezüglich der Glutathion-S-Transferase GSTT1. Dagegen bestand kein erhöhtes Nierenkrebsrisiko bei Trichlorethen-exponierten Beschäftigten ohne mindestens ein intaktes GSTT1-Allel. Dieser Befund wird erklärlich, weil nur bei einem intakten GSTT1-Allel die reduktive Verstoffwechselung von Trichlorethen möglich ist (siehe Abschnitte 2 und 3).

5. Beurteilung

Auf Grund der oben beschriebenen Evidenz hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft im Jahr 1996 Trichlorethen als humankanzerogen eingestuft (Deutsche Forschungsgemeinschaft 1996). Im Jahr 2014 folgte die Einstufung als Gruppe 1-Stoff durch die internationale Agentur für Krebsforschung (IARC 2014).

Auf Grund der vorliegenden Evidenz, insbesondere des Nachweises eines gentoxischen Trichlorethen-Metaboliten, der positiven Evidenz für eine krebserzeugende Wirkung in tierexperimentellen Studien und der vorliegenden epidemiologischen Evidenz nimmt der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen kausalen Zusammenhang zwischen einer intensiven Trichlorethen-Exposition und Nierenkrebs an.

Brüning et al. (2005) haben unter folgenden Voraussetzungen empfohlen, ein Nierenzellkarzinom im Rahmen der Berufskrankheit Nr. 1302 anzuerkennen:

  1. Der Beschäftigte war einer mindestens dreijährigen Einwirkung mit Trichlorethen ausgesetzt, die zu pränarkotischen Symptomen in Form von Rausch- oder Trunkenheitsgefühl, Benommenheit, Schwindel oder Kopfschmerzen geführt hat.
  2. Die Latenzzeit zwischen der erstmaligen Trichlorethenexposition und dem Auftreten des Nierenzellkarzinoms beträgt mindestens zehn Jahre.
  3. Bei dem Beschäftigten wurde ein primäres Nierenzellkarzinom diagnostiziert.
  4. Bei dem Beschäftigten besteht eine toxische Nierenschädigung durch Trichlorethen in Form einer erhöhten Ausscheidung von Beta-2-Mikroglobulin, Alpha-1-Mikroglobulin, Delta-N-Acetyl-D-Glucosaminidase oder Gluta- thion-S-Transferase Alpha.

Der Ärztliche Sachverständigenbeirat "Berufskrankheiten" beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales schließt sich den o. g. Kriterien a) bis c) für die Zusammenhangsbeurteilung an. Sofern das Kriterium d) erfüllt ist, spricht dies zusätzlich für das Vorliegen einer Berufskrankheit Nr. 1302, weil Beschäftigte mit hoher Trichloretheneinwirkung häufig, aber nicht immer eine toxische Nierenschädigung im Sinne des Kriteriums d) aufweisen. Das Kriterium d) ist aber keine Bedingung für die Anerkennung des Nierenkrebses durch Trichlorethen im Sinne der Berufskrankheit Nr. 1302, weil keine epidemiologischen Studien vorliegen, die ein erhöhtes Nierenkrebsrisiko nach Trichloretheneinwirkung und den im Kriterium d) genannten toxischen Nierenschädigungen nachgewiesen haben.

6. Hinweis zum Merkblatt

Die Aussage im Abschnitt IV."Weitere Hinweise" des Merkblattes zu der Berufskrankheit Nr. 1302 (Bek. des BMA vom 29.03.1985, BArbBl. 6/1985, 55ff.) "Der Verdacht, daß Trichlorethen ("Tri") krebserzeugend sei, hat sich nicht bestätigt" ist daher wissenschaftlich überholt.

Literatur

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