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Regelwerk, Arbeitsschutz, Arbeits- und Sozialrecht

Merkblatt zur Berufskrankheiten-Verordnung Nr. 2112
Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von mindestens 13.000 Stunden und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht

Vom 30. Dezember 2009
(GMBl. Nr. 5/6 vom 04.02.2010 S. 98)



Zur Übersicht in der Anlage 1 der BKV
Wissenschaftliche Begründung
(10/2005)
Wissenschaftliche Stellungnahme
(10/2011)
Siehe auch ILO 42

I. Vorkommen und Gefahrenquellen

Unter einer Tätigkeit im Knien im Sinne dieser Berufskrankheit wird eine Arbeit verstanden, bei der der Körper durch das Knie und den Fuß abgestützt wird und der Winkel zwischen Ober- und Unterschenkel etwa 90° beträgt. Dabei kann es sich um einseitiges oder beidseitiges Knien sowie um Knien mit oder ohne Abstützung des Oberkörpers durch die Hände handeln. Unter Tätigkeiten mit einer dem Knien vergleichbaren Kniebelastung werden einseitige oder beidseitige Arbeiten im Hocken oder im Fersensitz sowie Kriechen (Vierfüßlergang) verstanden. Unter einer Tätigkeit im Hocken im Sinne dieser Berufskrankheit wird eine Arbeit verstanden, bei der der Beschäftigte bei maximaler Beugung der Kniegelenke das Körpergewicht auf den Vorfußballen oder den Füßen abstützt. Beim Fersensitz liegen die Kniegelenke und die ventralen Anteile des Unterschenkels auf der Arbeitsfläche auf und der Beschäftigte sitzt bei maximaler

Abbildung 1: Arbeiten im Knien, Hocken und Fersensitz sowie Kriechen

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HockenKnien ohne abgestützten
Oberkörper
Knien mit abgestütztem
Oberkörper
 
FersensitzKriechen
("Vierfüßlergang")

Kniegelenksbeugung auf der Ferse. Beim Kriechen (Vierfüßlergang) handelt es sich um eine Fortbewegung im Knien, in dem ein Knie vor das andere Knie gesetzt wird (siehe Abbildung 1).

Tätigkeiten im Knien, Hocken, im Fersensitz oder im Kriechen kommen insbesondere bei folgenden Berufsgruppen und Tätigkeiten vor:

Die kumulative Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens durch eine Tätigkeit im Knien oder in vergleichbarer Kniebelastung muss mindestens 13.000 Stunden und die Mindesteinwirkungsdauer pro Schicht insgesamt eine Stunde betragen. Die Einwirkungsdauer pro Schicht ergibt sich durch Addition der durchschnittlichen Dauer der einzelnen Tätigkeiten im Knien oder in vergleichbarer Kniebelastung. Die kumulative Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens ergibt sich durch Addition der Tätigkeiten im Knien oder in vergleichbarer Kniegelenksbelastung während der einzelnen Arbeitsschichten. Einbezogen in die Berechnung der kumulativen Einwirkungsdauer werden diejenigen Tätigkeiten, die typischerweise mit einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt einer Stunde pro Schicht verbunden sind. Die Mindestdauer pro Arbeitsschicht in Höhe von einer Stunde stellt den unteren Grenzwert dar, bei dem die einzelne tägliche Belastung geeignet ist, Kniegelenksschädigungen zu verursachen. Dauerhafte Arbeitsschichten mit dieser Mindestbelastungszeit alleine reichen aber regelmäßig nicht aus, um die erforderliche kumulative Gesamtbelastung von 13.000 Stunden zu erreichen. So wäre bei einer durchschnittlichen nur einstündigen Belastung bei 220 Arbeitstagen jährlich erst nach rund 60 Jahren ununterbrochener Tätigkeit die Mindesteinwirkungsdauer von 13.000 Stunden erreicht. Anhaltspunkte für die Dauer der Kniegelenksbelastung sind Bolm-Audorff et al. [3] und Ditchen et al. [9] zu entnehmen.

II. Pathophysiologie und Epidemiologie

Mechanische Faktoren wie Kongruenzstörungen oder Dysfunktionen der Gelenke, die zu einer erhöhten Druckkraft auf den Gelenkknorpel führen, sind seit langer Zeit als Ursache für die Entwicklung einer Arthrose bekannt [15]. Als Ursache dieser neuen Berufskrankheit wird eine erhöhte Druckkraft während einer beruflichen Tätigkeit im Knien oder einer vergleichbaren Kniebelastung auf den Gelenkknorpel im Retropatellar- und Tibiofemoralgelenk angenommen. Biomechanische Studien zeigen, dass es bei der Kniegelenksbeugung um 90° bzw. 120° wie beim Knien oder Hocken zu einem hohen Druck im Kniehauptgelenk von 26 bzw. 24 Megapascal (MPa) sowie einer hohen Druckkraft von 3,7 bzw. 4,5 Kilonewton kommt [31, 45]. Mehrere Autoren zeigten in zellexperimentellen Studien mit Chondrozytenkulturen, dass die Einwirkung von hydrostatischem Druck mit einer Höhe von 1 und 5 Megapascal (MPa) zu einer Zunahme der Synthese von Proteoglycan, einem wesentlichen Bestandteil der Knorpelmatrix, im Vergleich zum Umgebungsdruck führt. Ferner ist nach dieser Druckeinwirkung die Expression von Boten-Ribonukleinsäure (mRNA) vermehrt, die für Proteoglykankernprotein, für Aggrecan und Kollagen II sowie für TGF Beta, kodierten. Aggrecan und Kollagen II sind wesentliche Bestandteile der Knorpelmatrix. TGF Beta, ist ein Zytokin, das die Synthese von Knorpelmatrix fördert [16, 43, 44, 46]. Dagegen führte die Einwirkung von hydrostatischem Druck auf Chondrozytenkulturen in Höhe von 10 und 50 MPa für eine Dauer von 2 Stunden zu einer Abnahme der Proteoglykansynthese [43].

Tierexperimentelle Studien konnten zeigen, dass hohe statische oder intermittierende Druckkräfte auf den Gelenkknorpel verschiedener Gelenke zu einer Knorpelschädigung bis zum Vollbild der Arthrose führen [12, 18, 28, 29, 34-37, 41].

Die genannten Untersuchungen machen es biologisch plausibel, dass hohe statische und dynamische Druckkräfte auf den Kniegelenksknorpel zu einer Gelenkschädigung führen.

Die o. g. biomechanischen Studien werden durch epidemiologische Studien gestützt. In mehreren Fall-Kontroll- und Querschnittsstudien fand sich ein positiver Zusammenhang zwischen beruflicher Einwirkung durch Arbeiten im Knien, Hocken oder Fersensitz sowie Kriechen und der Entwicklung einer Kniegelenksarthrose [5, 6, 10, 19, 20-22, 24, 25, 27, 39, 40]. Fünf Studien zeigten eine positive Dosis-WirkungsBeziehung [10, 20, 25, 39, 40]. Die Untersuchungen sind in der wissenschaftlichen Begründung [4] zu dieser Berufskrankheit im Einzelnen dargestellt, sofern sie damals bereits veröffentlicht waren.

III. Krankheitsbild und Diagnose

Beim Kniegelenk handelt es sich um ein komplex aufgebautes Gelenk, bestehend aus dem Tibiofemoralgelenk (sog. Kniehauptgelenk) sowie dem Retropatellargelenk. Die Arthrose des Kniegelenks (Gonarthrose) ist gekennzeichnet durch Knorpelabbau, subchondralen Knochenumbau mit Sklerose, subchondralen Knochenzysten, 0 steophytenbildung im Bereich der beteiligten Knochen, Bewegungseinschränkungen im Rahmen der Beugung und Streckung des Kniegelenkes sowie Schmerzen im Kniegelenk [8, 15, 42].

Die Diagnose einer Gonarthrose setzt eine klinische und röntgenologische Untersuchung des Kniegelenks voraus. Nach einer verbreiteten Klassifikation werden Veränderungen im Röntgenbild und anderen bildgebenden Verfahren in folgende vier Stadien, je nach Ausmaß der degenerativen Veränderungen, eingeteilt [23]:

Die Diagnose einer Gonarthrose im Sinne dieser Berufskrankheit hat folgende Voraussetzungen:

Für die röntgenologische Diagnose einer Gonarthrose entsprechend Grad 2 der Klassifikation nach Kellgren et al. [23] reicht die Feststellung eines definitiven Osteophyten im Kniehauptgelenk oder Retropatellargelenk aus. Anhaltspunkte für eine definitive Verschmälerung des Kniegelenksspaltes im Sinne der o. g. Röntgenklassifikation sind Beattie et al. [2] und Lanyon et al. [26] zu entnehmen.

Die Kniegelenksarthrose im Sinne dieser Berufskrankheit kann isoliert im medialen oder lateralen Kniehauptgelenk oder im medialen oder lateralen Retropatellargelenk auftreten. Bei schweren Erkrankungsfällen sind häufig alle Kompartimente des Kniegelenks degenerativ verändert.

Bei beidseitigem Knien und vergleichbarer Kniebelastung tritt die Gonarthrose in der Regel beidseitig auf. Sofern die Kniegelenksbelastung jedoch überwiegend einseitig erfolgt, wird auch eine einseitige Gonarthrose in dem belasteten Kniegelenk beobachtet. Eine einseitige Gonarthrose spricht nicht gegen eine Berufskrankheitanzeige.

Die Chondropathia patellae, die überwiegend bei jugendlichen Patienten auftritt, ist keine Erkrankung im Sinne dieser Berufskrankheit und stellt auch keine Frühform der Gonarthrose dar. Auch die Chondromalacia patellae mit herdförmigen Veränderungen des Patellarknorpels stellt keine Retropatellararthrose im Sinne dieser Berufskrankheit dar [8].

IV. Weitere Hinweise

Folgende Erkrankungen sind als gesicherte außerberuflich bedingte konkurrierende Ursachenfaktoren für die Entwicklung einer Gonarthrose anzusehen [15, 42, 48]:

  1. außerberufliche mechanische Ursachen
  2. Internistische Erkrankungen

Unterschiedliche Angaben liegen in der Literatur zur Bewertung des Genu varum (0-Beine) und des Genu valgum (X-Beine) vor. Umgekehrt kann eine mediale Gonarthrose langfristig auch zu einer 0-Fehlstellung, eine laterale Gonarthrose zu einer X-Fehlstellung führen. Im Einzelnen siehe die wissenschaftliche Begründung zu dieser Berufskrankheit [4].

Umstritten ist ferner die Bewertung der Chondrokalzinose als außerberuflich bedingter konkurrierender Ursachenfaktor für die Entwicklung einer Gonarthrose. Während die Chondrokalzinose z. T. als Präarthrose eingestuft wird [15], gehen andere Autoren davon aus, dass sich die Chondrokalzinose in einem degenerativ veränderten Gelenk entwickelt [19, 38]. In einer prospektiven Studie zeigte sich, dass ein Zusammenhang zwischen Chondrokalzinose und der Verschlimmerung einer Kniegelenksarthrose nicht nachweisbar war [32].

Der vereinzelt angenommene ursächliche Zusammenhang zwischen Herz- und Kreislauf-Risikofaktoren und des metabolischen Syndroms mit der Entwicklung einer Gonarthrose [11] ist umstritten. In mehreren Studien ließ sich kein erhöhtes Gonarthroserisiko von Rauchern [1, 7, 47] sowie Diabetikern [1, 7, 30] nachweisen. Zwar fand sich in zwei Studien ein signifikant erhöhtes Gonarthroserisiko bei Hypertonikern [7, 30], diese Studien sind jedoch nicht aussagekräftig, weil sie nicht für Body Mass Index, einen der wesentlichen Risikofaktoren sowohl für die Entwicklung einer Hypertonie als auch einer Gonarthrose, adjustiert wurden. Mehrere Autoren vertraten die Auffassung, dass sich der Zusammenhang zwischen Adipositas und Kniegelenksarthrose mechanisch und nicht metabolisch erklärt [17, 33].

Bei Beschäftigten mit Meniskopathie, Zustand nach Meniskektomie und anerkannter Berufskrankheit Nr. 2102 ist zu prüfen, ob eine später aufgetretene Gonarthrose im Sinne der Verschlimmerung der Berufskrankheit Nr. 2102 anerkannt werden kann.

In der Fall-Kontroll-Studie von Coggon et al. [5] zeigte sich, dass ein nahezu multiplikatives, d. h. voneinander unabhängiges Zusammenwirken zwischen Adipositas und beruflicher Einwirkung durch Arbeiten im Knien oder Hocken bestand.

Tabelle 1 zeigt das Zusammenwirken zwischen Patella alta und Kniegelenksbelastungen bei untertägigen Bergleuten. Dabei zeigt sich in der Kontrollgruppe, dass Probanden mit Patella alta ein deutlich erhöhtes Risiko für Femoropatellararthrose (9,75 versus 0,8 %) und Femorotibialarthrose (4,06 versus 0 %) aufweisen. Dies gilt auch für Bergleute. Allerdings zeigt sich, dass Bergleute mit Patella alta ein deutlich höheres Risiko als die Kontrollprobanden mit Patella alta für die Entwicklung einer Femoropatellararthrose (29,03 versus 9,75 %) und einer Femorotibialarthrose (22,58 versus 4,06 %) aufweisen. Somit kann die berufliche Kniegelenksbelastung bei der Begutachtung dieser Berufskrankheit auch beim Vorliegen einer Patella alta nicht hinweggedacht werden.

Tab. 1: Zusammenwirken zwischen Patella alta und Kniegelenksbelastungen bei untertägigen Bergleuten (nach Greinemann [13])

Patella
Alta
FemoropatellararthroseFemorotibialarthrose
Kontrollgruppe
(n = 500)
Bergleute
(n = 500)
Kontrollgruppe
(n = 500)
Bergleute
(n = 500)
Nein0,80 %4,52 %0 %9,84 %
Ja9,75 %29,03 %4,06 %22,58 %

Das Zusammenwirken zwischen beruflichen Einwirkungen im Sinne dieser Berufskrankheit und den übrigen oben genannten konkurrierenden Faktoren ist nicht bekannt.

Die Begutachtung dieser Berufskrankheit erfordert eine Stellungnahme des Präventionsdienstes des Unfallversicherungsträgers zum Vorliegen der erforderlichen beruflichen Einwirkung sowie eine Untersuchung und Befragung des Erkrankten mit Erhebung der Beschwerdeanamnese, des klinischen Befundes sowie einer Bewertung von Röntgenbildern der Kniegelenke in zwei Ebenen oder der Ergebnisse anderer bildgebender Verfahren. Der medizinische Gutachter hat die Frage zu beantworten, ob ein für die Berufskrankheit typisches Krankheitsbild sowie konkurrierende Faktoren vorliegen. Beim Vorliegen der beruflichen Voraussetzungen und eines geeigneten Krankheitsbildes ohne das Bestehen von konkurrierenden Faktoren ist diese Berufskrankheit anzuerkennen. Dies gilt auch bei Vorliegen einer Adipositas, weil zwischen beruflicher Einwirkung im Sinne dieser Berufskrankheit und Adipositas ein multiplikatives Zusammenwirken in Bezug auf das relative Gonarthroserisiko besteht, d. h., dass auch beim Adipösen die berufliche Einwirkung das Gonarthroserisiko in etwa verdoppelt. Somit ist diese Berufskrankheit bei Vorliegen der beruflichen Voraussetzung und des geeigneten Krankheitsbildes auch bei Adipösen anzuerkennen. Dies gilt auch bei Versicherten mit Patella alta (siehe Tab. 1). Das Zusammenwirken zwischen beruflichen Einwirkungen im Sinne dieser Berufskrankheit

und anderen konkurrierenden Faktoren wie Zustand nach Meniskektomie bei außerberuflich bedingter Meniskopathie, Zustand nach außerberuflichem Kniegelenkstrauma oder unbehandelter außerberuflicher Kreuzbandruptur in Bezug auf das Gonarthroserisiko ist unbekannt. Im Rahmen einer Einzelfallprüfung ist in Abhängigkeit vom Ausmaß des konkurrierenden Faktors (z.B. Größe des resezierten Meniskusanteils, Art des Kniegelenktraumas etc.) und der Höhe der beruflichen Einwirkungen vom medizinischen Sachverständigen im Rahmen der Theorie der wesentlichen Bedingung festzustellen, ob die wesentliche Mitverursachung der Erkrankung durch die beruflichen Einwirkungen wahrscheinlich gemacht werden kann oder nicht. Angesichts des besonders stark erhöhten Gonarthoserisikos bei Zustand nach außerberuflich bedingter Meniskektomie oder unbehandelter außerberuflich bedingter Kreuzbandruptur wird bei Vorliegen dieser außerberuflich bedingten konkurrierenden Faktoren auch bei gegebenen beruflichen Voraussetzungen i.d.R kein Raum sein für die Anerkennung einer Gonarthrose als Berufskrankheit.

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ENDE