Der Bundesrat hat in seiner 853. Sitzung am 19. Dezember 2008 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat begrüßt das Ziel, die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie weiter zu fördern. Eine gute Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie ist nicht nur eine wesentliche Voraussetzung für den erwünschten Anstieg der Geburtenraten in Europa. Sie kann zur auch faktischen Gleichstellung der Geschlechter beitragen und das dauerhafte Ausscheiden von qualifizierten Arbeitskräften - insbesondere von Frauen - aus dem Arbeitsmarkt vermeiden helfen. Da ein Arbeitsplatz der Eltern die beste Absicherung gegen soziale Ausgrenzung, Armut im Allgemeinen und Kinderarmut im Besonderen darstellt, tragen Vereinbarkeitsmaßnahmen zudem zum sozialen Schutz von Familien bei. Schließlich wird eine familienfreundliche Personalpolitik der Unternehmen auch diesen im Wettbewerb um die fähigsten und motiviertesten Beschäftigten zum Vorteil gereichen. Allerdings muss die Wahlfreiheit der Eltern hinsichtlich der Aufteilung der Erwerbs- und Familienarbeit weiterhin ohne Diskriminierung erhalten bleiben. Auch Belange nicht erwerbstätiger Eltern sind zu berücksichtigen.
- 2. Der Bundesrat begrüßt, dass die Kommission die hauptsächliche Verantwortung der Mitgliedstaaten für weitere Vereinbarkeitsmaßnahmen hervorhebt. Denn schon aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslagen kann es nur den Mitgliedstaaten obliegen, zu entscheiden, wo weitere Schwerpunkte gesetzt werden müssen und die tatsächlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen für weitere Verbesserungen zu schaffen. In Deutschland sind die Länder maßgebliche Akteure.
- 3. Die Kommission sollte den grenzüberschreitenden Ideen- und Erfahrungsaustausch fördern sowie die nationalen Anstrengungen beim Ausbau von Betreuungseinrichtungen und beim Abbau geschlechterspezifischer Stereotypen unterstützen. Der Bundesrat befürwortet daher nachdrücklich das Engagement der Kommission bei der Förderung des nationalen Erfahrungsaustausches im Bereich der Kinderbetreuung (wie es z.B. durch die im Rahmen der Europäischen Allianz für Familien geschaffene Plattform oder durch das Programm zum Austausch vorbildlicher Praktiken auf dem Gebiet der Gleichstellung von Mann und Frau zum Ausdruck kommt). Auch die durch die EU eingeräumte Möglichkeit, mit Mittel des Europäischen Sozialfonds eine Reihe von unterschiedlichen Vereinbarkeitsmaßnahmen - beispielhaft seien nur die betrieblich unterstützte Kinderbetreuung oder Modellprogramme zur Erleichterung des beruflichen Wiedereinstiegs von Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Übernahme familiärer Aufgaben für längere Zeit unterbrochen haben, genannt - fördern zu können, wird ausdrücklich begrüßt.
- 4. Zu Recht stellt die Kommission fest, dass allein den Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für Ausbau und Ausgestaltung von Kinderbetreuungseinrichtungen obliegt. Der Bundesrat setzt sich insbesondere für ein breites bedarfsgerechtes Angebot ein, das zur Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit beiträgt.
- 5. Nach Auffassung des Bundesrates steht der Richtlinienvorschlag zur Änderung der Mutterschutzrichtlinie mit dem Grundsatz der Subsidiarität nicht in Einklang. Der Bundesrat weist darauf hin, dass den vorgeschlagenen Änderungen in der Mutterschutzrichtlinie keine grenzüberschreitenden Aspekte zugrunde liegen, die nur auf europäischer Ebene gelöst werden könnten. Weshalb beispielsweise die Verlängerung der Mutterschutzfristen nicht auf Ebene der Mitgliedstaaten ausreichend geregelt werden können sollte, ist nicht ersichtlich. Die Ausführungen der Kommission zur Vereinbarkeit des Vorhabens mit dem Subsidiaritätsgrundsatz sind insoweit unzureichend und entsprechen nicht den Anforderungen des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit.
Die Aussage der Kommission in Erwägungsgrund 21 des Vorschlags, wonach die Ziele der Maßnahme, nämlich die Anhebung des Schutzniveaus für schwangere Arbeitnehmerinnen, u. a. auf Ebene der Mitgliedstaaten "wegen des unterschiedlichen Schutzniveaus" nicht ausreichend verwirklicht werden könnten und daher besser auf Gemeinschaftsebene zu erreichen seien, ist unbegründet.
Dass eine nationale Regelung sehr wohl möglich ist, zeigt sich bereits daran, dass diejenigen Mitgliedstaaten, die eine Ausdehnung der Mutterschutzfristen für erforderlich hielten, sie längst vorgenommen haben. Europäischem Handeln kommt hier gegenüber mitgliedstaatlichen Regelungen auch kein Mehrwert zu, zumal für die zum Zweck der Verbesserung der Arbeitsumwelt zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer erlaubte Mindestharmonisierung der nationalen Vorschriften bereits die Ausgangsrichtlinie in hinreichendem Maße Sorge trägt. Die Schaffung einheitlicher Mindeststandards ist für sich allein genommen kein Ziel im Sinne des Artikels 5 Abs. 2 EGV.
Nach Auffassung des Bundesrates liegen mithin sowohl eine Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes nach Artikel 5 Abs. 2 EGV als auch eine Verletzung der Begründungspflicht nach Artikel 253 EGV vor.
- 6. Der Bundesrat weist darauf hin, dass sich in den Vorschlägen der Kommission wiederholt Einzelfestlegungen finden, die den verfolgten Zweck der Regelung in seiner praktischen Anwendung konterkarieren können.
- 7. Der Bundesrat hegt Zweifel, ob sich der Gesundheitsschutz von schwangeren Arbeitnehmerinnen durch die beabsichtigten Änderungen der Mutterschutzrichtlinie tatsächlich verbessern lässt.
Der Bundesrat lehnt jedenfalls eine verbindliche Ausweitung der Mutterschutzfrist von 14 auf 18 Wochen ab. Eine solche Verlängerung ist unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes nicht erforderlich.
Zwar ist die Gesundheit von schwangeren Frauen und Wöchnerinnen selbstverständlich schützenswert. Dass der durch die bisher geltende Mutterschaftsfrist gewährte Gesundheitsschutz unzureichend wäre, ist aber eben so wenig belegt wie die Behauptung, dass für einen optimalen Gesundheitsschutz eine Mutterschutzfrist von gerade 18 Wochen erforderlich sei.
- 8. Die zur Förderung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie ins Auge gefassten Maßnahmen müssen so beschäftigungsfreundlich wie möglich ausgestaltet werden. Zahlreiche im Rahmen der Reform der Richtlinie vorgeschlagenen Maßnahmen, wie z.B. die Verlängerung der bestehenden Mutterschutzfristen oder die Ausdehnung von Kündigungsschutzbestimmungen, haben eine starke finanzielle oder organisatorische Belastung der Arbeitgeber zur Folge, ohne dass sie wegen des Schutzes der Gesundheit der Arbeitnehmerinnen zwingend geboten wären.
Die Verlängerung der Mutterschutzfristen um vier Wochen wird ersten Schätzungen zufolge bei den deutschen Arbeitgebern zu jährlichen Mehrbelastungen von 430 Mio. bzw. 500 Mio. Euro, bei den gesetzlichen Krankenkassen zu solchen von 140 Mio. Euro für das Mutterschaftsgeld sowie bei den verschiedenen Zweigen der Sozialversicherung zu weiteren, nicht quantifizierbaren Belastungen durch wegfallende Beitragseinnahmen führen. Bereits heute entstehen den deutschen Betrieben durch die Regelungen über den Mutterschutz jährlich Kosten in Höhe von 1,6 Mrd. Euro. In Deutschland tragen anders als in den meisten Mitgliedstaaten der EU die Arbeitgeber die Hauptlast der Finanzierung. Der Bundesrat hat deshalb die Sorge, dass sich die zum Wohle der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gedachten Maßnahmen letztlich gegen sie wenden, weil die Erhöhung der Lohnnebenkosten der Beschäftigung insgesamt abträglich sein könnte. Zwar erhöht die Verlängerung der Mutterschutzfristen in Deutschland nicht gezielt die Kosten der Beschäftigung von jungen Frauen, weil der Anteil der Unternehmen am Mutterschaftsentgelt über einen Fonds beglichen wird, in den alle Arbeitgeber unabhängig vom Geschlecht ihrer Arbeitnehmer einzahlen. Aufgrund der allgemein beschäftigungsfeindlichen Wirkung zusätzlicher Lohnnebenkosten und der organisatorischen Belastung der Arbeitgeber, die die verlängerten und aufgrund des den Frauen eingeräumten Wahlrechts zudem weniger gut kalkulierbaren Ausfallzeiten junger Mütter überbrücken müssen, birgt der Vorschlag die Gefahr einer schlechteren Chance gerade jüngerer Frauen auf dem Arbeitsmarkt.
- 9. Der Bundesrat gibt zu bedenken, dass die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie vor allem durch solche Maßnahmen gefördert bzw. befördert werden sollte, die beiden Eltern gleichermaßen zur Verfügung stehen. Dies ist zum Beispiel bei der Elternzeit, die Eltern in Deutschland bis zu drei Jahre lang zusätzlich zum Mutterschaftsurlaub in Anspruch nehmen können, der Fall. Regelungen, die über den aus gesundheitlichen Gründen erforderlichen Umfang hinaus allein den Müttern eine Freistellung von ihren Arbeitspflichten ermöglichen, können eher dazu beitragen, geschlechterspezifische Rollenbilder noch zu zementieren und einen baldigen beruflichen Wiedereinstieg der Mütter verhindern. Denn die Wirklichkeit zeigt, dass sich - zumindest wenn die Elternzeitregelungen, wie in Deutschland, großzügig ausgestaltet sind - in den meisten Familien an die Mutterschutzfristen Elternzeiten anschließen, die häufig ebenfalls von den Müttern in Anspruch genommen werden. Dem gesellschaftspolitischen Ziel einer faktischen Gleichstellung der Geschlechter und einer verstärkten Einbindung der Väter in die Familienarbeit lässt sich auf diese Weise nicht näherkommen.
- 10. Der Bundesrat bittet die Kommission um Klarstellung, dass durch die Ausdehnung des Kündigungsschutzes für junge Mütter für Kündigungen binnen sechs Monaten nach Ende des Mutterschaftsurlaubs nur ein auf Verlangen der Arbeitnehmerin zu wahrendes Formgebot eingeführt wird.
- 11. Aus den Erwägungsgründen 7 und 8 des Richtlinienvorschlags lässt sich ersehen, dass die Überarbeitung der Richtlinie auch dazu beitragen soll, die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie zu verbessern. Diese Zielrichtung gebietet es nach Auffassung des Bundesrates, die Ergebnisse der derzeit noch andauernden Verhandlungen der europäischen Sozialpartner über die Revision der Elternurlaubsrichtlinie auch bei der Revision der Mutterschutzrichtlinie zu berücksichtigen. Es gilt, die wichtige Rolle der europäischen Sozialpartner bei Gemeinschaftsmaßnahmen, die auf die Veränderung der Arbeitsumwelt zielen, zu wahren.
- 12. Der Bundesrat wendet sich gegen die nach dem Vorbild der Gleichbehandlungsrichtlinien gestalteten Regelungen zur gestuften Beweislastumkehr und zum Verbot der Limitierung von Schadensersatzansprüchen. Hierdurch beschränkt die EU in unverhältnismäßiger Weise den Ausgestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten und zwingt sie zur Übernahme von mit dem eigenen Prozessrecht nicht in Einklang stehenden Detailbestimmungen.
- 13. Mit der im Richtlinienvorschlag enthaltenen teilweisen Beweislastumkehr (Artikel 12a) steigt der Aufwand der Arbeitgeber, ihre Entscheidungen zu dokumentieren, erheblich. Dem potenziell Beklagten ist der Beweis, dass keine Diskriminierung vorliegt unter anderem möglich, wenn er die Umstände der Entscheidung so dokumentiert und registriert, dass er im Bedarfsfall unberechtigte Vorwürfe abzuwehren imstande ist. Bei einem Unternehmer wird es daher erforderlich werden, sämtliche Kontakte zu den Betroffenen ab der Mitteilung der Schwangerschaft bis zu einem Zeitraum von sechs Monaten nach Ende des Mutterschaftsurlaubs exakt zu erfassen.
- 14. Der Bundesrat lehnt daher auch hier das in Artikel 12c vorgesehene Verbot für Höchstgrenzen bei der Opferentschädigung ab. Insofern macht es keinen Unterschied, ob Schadenersatz in Verfahren zwischen den Beteiligten zu gewähren ist oder - wie hier - als Auskehrung einer verhängten Strafe erfolgt. Auch wenn im Bereich des zivilrechtlichen Benachteiligungsverbots bislang keine Obergrenzen für Entschädigungen bzw. Schadenersatzleistungen vorgesehen sind, lehnt der Bundesrat diese Bestimmung als zu weitgehende Einmischung in das nationale Sanktionenrecht ab. Die Erfahrungen in anderen Bereichen - etwa mit der entsprechenden arbeitsrechtlichen Regelung - zeigen, dass die dort vorhandene Deckelung gerade für mittelständische Unternehmen, die sich häufig keine eigene Rechtsabteilung leisten können, von großer Bedeutung ist, weil sie die Prämien für Versicherungen gegen "AGG-Haftungsschäden" bezahlbar hält.
- 15. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass auch bei Vereinbarkeitsmaßnahmen das Ziel der Entbürokratisierung berücksichtigt werden sollte. Die Betrauung der nationalen Gleichbehandlungsstellen mit zusätzlichen Aufgaben aus dem Bereich des Mutterschutzes scheint diesem Ziel zuwiderzulaufen.