Der Bundesrat hat in seiner 865. Sitzung am 18. Dezember 2009 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
- 1. Der Bundesrat erkennt die Bemühungen der Kommission an, die Harmonisierung der Asylsysteme der Mitgliedstaaten mit dem Ziel der Einführung eines gemeinsamen Asylverfahrens und eines einheitlichen Asyl- bzw. subsidiären Schutzstatus voranzubringen. Er teilt die Auffassung der Kommission, dass eine Angleichung der asylrechtlichen Schutznormen geeignet ist, unerwünschte Sekundärmigration von Asylbewerbern innerhalb Europas zu verringern.
- 2. Die Harmonisierung des Asylrechts soll nach der Konzeption des Haager Programms schrittweise vorangetrieben werden, wobei die Auswirkungen bereits getroffener Maßnahmen ein wichtiges Gestaltungskriterium für zukünftige Schritte sind. Der Bundesrat bekräftigt deshalb seine zum Grünbuch über das künftige gemeinsame europäische Asylsystem (vgl. BR-Drucksache 414/07(B) ) und zur Mitteilung über die künftige Asylstrategie (vgl. BR-Drucksache 452/08(B) ) dargelegte Meinung, dass es zunächst einer fundierten Bewertung der Asylrechtsnormen aus der ersten Phase bedarf, bevor ein weiteres Asyl-Rechtsetzungsverfahren folgen kann. Da die Umsetzungsfrist der derzeit geltenden Richtlinie 2004/83/EG über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge erst am 10. Oktober 2006 abgelaufen ist, ist eine fundierte und abschließende Bewertung der Wirkungen des Rechtsaktes noch nicht möglich. Dies wird auch dadurch belegt, dass bis dato nur eine einzige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Rs. C-465/07) zur Auslegung dieser Richtlinie veröffentlicht wurde. Der Bundesrat hält deshalb an seiner zum Entwurf des Stockholmer Programms beschlossenen Haltung (vgl. Ziffer 63 der BR-Drucksache 616/09(B) ) fest, dass die Verabschiedung der Rechtsetzungsvorschläge der zweiten Harmonisierungsphase bis Ende 2012 keinesfalls zu einem absoluten Ziel erhoben werden darf.
- 3. Der Bundesrat bittet - nicht zuletzt angesichts der vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Fällen untersagten Rücküberstellungen nach Griechenland - die Bundesregierung, die Kommission zur strengen Kontrolle der ordnungsgemäßen Anwendung der bestehenden Asylmindeststandards in allen Mitgliedstaaten anzuhalten, bevor wegen der Umsetzung neuer Richtlinienbestimmungen die Unterschiede in der Asylpraxis zwischen den Mitgliedstaaten noch größer werden. Der Bundesrat kritisiert insofern die legislative Erhöhung der unionsweiten Schutzstandards für Asylbewerber und subsidiär Schutzberechtigte, solange die im Rahmen der ersten Harmonisierungsphase erlassenen Mindeststandards nicht in allen Mitgliedstaaten effektiv umgesetzt werden.
- 4. Der Bundesrat spricht sich dafür aus, im Rahmen des Vorschlags zur Neufassung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie) die Unterscheidung zwischen dem Flüchtlingsstatus und dem subsidiären Schutzstatus aufrecht zu erhalten. Die Kommission behauptet, die bisherigen praktischen Erfahrungen hätten gezeigt, dass die bei Einführung des subsidiären Schutzstatus zu Grunde gelegte Annahme, dass es diesen Status nur vorübergehend gebe, falsch gewesen sei (siehe Nummer 3.1.6. der Begründung des Kommissionsvorschlags), bleibt aber den Nachweis dafür schuldig.
Für die Aufrechterhaltung der beiden Status spricht die unterschiedliche Schutzbedürftigkeit der Personengruppen. Mit dem subsidiären Schutz gewähren die Mitgliedstaaten den völkerrechtlich gebotenen Schutz. Die bisherige Unterscheidung zwischen Asylbewerbern und Antragstellern auf subsidiären Schutz ist auch schon wegen der oftmals unterschiedlichen Zeitdauer des Schutzbedürfnisses sachlich gerechtfertigt (vgl. bereits Ziffer 3 der BR-Drucksache 965/08(B) ). Wegen dieser unterschiedlichen Schutzbedürftigkeit liegt auch kein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot (Artikel 14 Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK -) vor.
- 5. Der Bundesrat spricht sich gegen die mit dem Richtlinienvorschlag beabsichtigte Ausweitung des Begriffes "Familienangehörige" - über die Kernfamilie im Sinne der Grundrechte der EU hinaus - aus. Auch die laufenden Verhandlungen in der zuständigen Ratsarbeitsgruppe über den Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten und über den Vorschlag zur Neufassung der sogenannten Dublin-Verordnung lassen eine Begrenzung der Familienangehörigen auf die Kernfamilie erwarten. Diesem Verhandlungsstand ist Rechnung zu tragen. Das von der Kommission angeführte Argument, Kohärenz mit den übrigen Vorschlägen der zweiten Harmonisierungsphase herstellen zu wollen, kann daher die Ausweitung des Familienbegriffs nicht mehr unterstützen.
Grundsätzlich merkt der Bundesrat an, dass Begriffsdefinitionen in grundlegenden Rechtsakten der EU verbindlich für Folgerechtsakte vorgegeben werden sollten, um auf diese Weise tatsächlich die Kohärenz der Rechtsetzung, etwa auf dem Gebiet des Asylrechts, zu gewährleisten. Die Bundesregierung wird gebeten, hierauf hinzuwirken.
- 6. Mit den von der Kommission vorgeschlagenen Textänderungen beim Konzept der nichtstaatlichen Akteure wird das angestrebte Ziel, Asylentscheidungen durch Beseitigung von Unklarheiten qualitativ besser und effizienter zu machen, nicht erreicht. Die Vorschläge enthalten einige unbestimmte Rechtsbegriffe, die große Interpretationsspielräume lassen (wie z.B. in Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe b: Akteure, die "in der Lage sind, der Rechtsstaatlichkeit Geltung zu verschaffen"). Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, im Sinne einer einheitlichen Anwendung auf eine Konkretisierung hinzuwirken. Die Anforderungen an die nichtstaatlichen Akteure, die Schutz bieten können, sind außerdem zu weitgehend gefasst und daher abzulehnen.
- 7. Die Verschärfung der Voraussetzungen, wonach Antragsteller auf internationalen Schutz nur auf inländische Fluchtalternativen verwiesen werden können, wenn sie sicher und legal in diesen Landesteil reisen können (Artikel 8 Absatz 1), geht nach Ansicht des Bundesrates zu weit. Die Flüchtlingsanerkennung bzw. Schutzgewährung ist erst dann gerechtfertigt, wenn feststeht, dass dem Betroffenen die Rückkehr in eine sichere Region des Heimatstaates dauerhaft nicht zumutbar möglich ist. Die nur vorübergehende Unmöglichkeit der Rückreise (z.B. unterbrochene Reiseverbindungen, behebbare Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Reisepapieren) kann hierfür nicht ausreichen, sondern begründet lediglich ein vorübergehendes Abschiebungshindernis (vgl. BVerwG vom 29. Mai 2008, BVerwGE 131, 186 ff).
Zu der neu in die vorgeschlagene Richtlinie eingefügten Pflicht der Mitgliedstaaten zur Einholung von Informationen über die Situation im Herkunftsstaat (Artikel 8 Absatz 2) bekräftigt der Bundesrat, dass es Sache des Asylbewerbers ist, substantiiert Tatsachen vorzutragen, die in Bezug auf seine Person ausnahmsweise eine Rückkehr in verfolgungsfreie Gebiete des Herkunftsstaates als unzumutbar erscheinen lassen können. Erst wenn diese Substantiierungsschwelle überschritten wird, ist die zuständige Behörde bzw. das Gericht verpflichtet, den vorgebrachten Einwendungen nachzugehen. Das Ziel des Richtlinienvorschlags, die Kohärenz zwischen dem Konzept des internen Schutzes und dem Schutzgehalt des Artikels 3 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte herzustellen, steht dem nicht entgegen. Denn es ist zwischen dem Schutzregime der EMRK, welche die Vertragsstaaten jeweils bindet, ohne einen subjektiven Rechtsanspruch zu begründen, und der Anerkennungsrichtlinie der EU, die den Betroffenen einen bestimmten materiellen Status zubilligt, zu differenzieren. Daher lässt sich entgegen der Annahme der Kommission nicht ohne weiteres eine Verbindung der Rechtsregime herstellen.
- 8. Die vorgeschlagene Lockerung des Erfordernisses eines Kausalzusammenhangs zwischen Nichtgewähren staatlichen Schutzes vor Verfolgung und Verfolgungsgründen (siehe Nummer 3.1.3 der Begründung der Kommission) erachtet der Bundesrat für bedenklich. Während der finale Zusammenhang - auf der Grundlage der geltenden Anerkennungsrichtlinie - bei aktiven staatlichen Eingriffen ohne Weiteres gegeben ist, bedarf es bei staatlichem Nichtgewähren des Schutzes einer besonderen Prüfung, welche dadurch mittelbar verursachten Folgen diesem Verhalten noch als zielgerichtete Rechtsverletzungen zugerechnet werden können (siehe BVerwG vom 19. Januar 2009, Az. 10 C 52.07). Es muss weiterhin gefordert werden können, dass die Verweigerung staatlichen Schutzes entsprechende Gefahren für die betroffenen Personen als unmittelbare Folge der Verweigerung staatlichen Schutzes bezweckt oder zumindest billigend in Kauf nimmt.
- 9. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung sich dafür einzusetzen, dass die Möglichkeit zur Einschränkung von Leistungen im Falle missbräuchlicher Aktivitäten, die zur Erlangung eines Schutzstatus geführt haben, aufrecht erhalten bleibt (Artikel 20 Absatz 6 und 7). Die von der Kommission angeführte Begründung, eine Streichung sei aufgrund des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung angezeigt, trägt nach Ansicht des Bundesrates nicht. Denn die Vorschriften zur Einschränkung von Leistungen im Falle "konstruierter" Ansprüche knüpfen nicht an Diskriminierungsmerkmale im Sinne des Artikels 14 EMRK an, sondern eröffnen den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, unabhängig von der nationalen oder sozialen Herkunft von Schutzsuchenden oder von anderen Merkmalen, die das Diskriminierungsverbot vorsieht, einen Missbrauch von staatlichen Leistungen zu sanktionieren. Die Abschaffung der Beschränkungsmöglichkeit würde zudem ein Motiv für unberechtigte und unerwünschte Wanderbewegungen nicht schutzbedürftiger Personen (Pull-Faktor) darstellen und kann auch nicht durch die in Artikel 4 Absatz 3 Buchstabe d vorgesehene Möglichkeit zur Berücksichtigung solcher Handlungen ausreichend aufgefangen werden.
- 10. Der Bundesrat lehnt eine Einzelfallprüfung, ob Antragsteller als Personen mit besonderen Bedürfnissen eingestuft werden müssen (Artikel 20 Absatz 4), ab, da diese nicht erforderlich ist und zu bürokratischen Erschwernissen führt (vgl. zu der vergleichbaren Situation im Rahmen des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten Ziffer 12 der BR-Drucksache 961/08(B) ). Die Identifizierung von Personen mit besonderen Bedürfnissen ist bereits im Rahmen des Asylverfahrens gewährleistet.
- 11. Der Bundesrat fordert, die Möglichkeit, Familienangehörigen eines Flüchtlings oder einer Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz leistungsrechtliche Ansprüche abweichend von den anerkannten Schutzbedürftigen zu gewähren, nicht zu streichen (Artikel 23 Absatz 2). Diese Ansprüche sollten sich nach dem konkreten ausländerrechtlichen Status jedes einzelnen Familienmitglieds und nicht nach dem Familienmitglied mit dem "stärksten" Status richten.
- 12. Die Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten sollte grundsätzlich nicht aufgegeben werden (s. o.). Insbesondere aber hält der Bundesrat die Verpflichtung, auch subsidiär Schutzberechtigten einen Aufenthaltstitel für mindestens drei Jahre zu erteilen (Artikel 24), für unangemessen im Hinblick auf den unterschiedlichen Schutzgrund.
- 13. Auch in der Frage des Zugangs zum Arbeitsmarkt (Artikel 26) ist der Bundesrat der Ansicht, dass eine Differenzierung zwischen den unterschiedlichen Schutzstatus weiterhin sachgerecht ist. Bei Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird, muss weiter eine Vorrangprüfung vor der Zustimmung zur Ausübung einer Beschäftigung möglich sein.
- 14. Der Bundesrat hält die in dem Vorschlag verpflichtend vorgesehene leistungsrechtliche Gleichbehandlung des Flüchtlingsstatus und des subsidiären Schutzes (Artikel 29, 30) für zu weitgehend und bittet die Bundesregierung, sich zumindest für Öffnungsklauseln einzusetzen, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, Differenzierungen vorzunehmen.
- 15. Der Bundesrat hält es nicht für erforderlich, Regelungen zur Verhinderung von Diskriminierung beim Zugang zu Wohnraum zu treffen (Artikel 32), zumal diese im Widerspruch zu den vorhandenen Regelungen der Richtlinie 2000/43/EG des Rates stehen. Zu deren Umsetzung wurde im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geregelt, dass bei der Vermietung von Wohnraum eine unterschiedliche Behandlung im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler und ausgewogener Strukturen sowie ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse zulässig ist. Für eine davon abweichende Regelung sieht der Bundesrat keinen Anlass.
- 16. Der Bundesrat hält es für ausreichend, die Mitgliedstaaten zu verpflichten, nach Gewährung von internationalem Schutz baldmöglichst die Suche nach Familienangehörigen eines unbegleiteten Minderjährigen einzuleiten. Der Grundsatz der Subsidiarität und die Beschränkung des Vorschlags auf Mindestnormen verlangen, dass es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, wie sie dieser Verpflichtung nachkommen. Darüber hinaus hält der Bundesrat es für zu weitgehend, verpflichtende Fortbildungen für das Betreuungspersonal für unbegleitete Minderjährige vorzusehen (Artikel 31 Absatz 6). Er hält es vielmehr für angemessen und ausreichend, Fortbildungsangebote vorzusehen.