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3.3 Schwere Augenschädigung/Augenreizung 16

3.3.1 Begriffsbestimmungen und allgemeine Erwägungen

3.3.1.1 19 Schwere Augenschädigung: das Erzeugen von Gewebeschäden im Auge oder schwerwiegende Verschlechterungen des Sehvermögens nach Exposition des Auges gegenüber einem Stoff oder Gemisch, die nicht vollständig reversibel sind.

Augenreizung: das Erzeugen von Veränderungen am Auge nach Exposition des Auges gegenüber einem Stoff oder Gemisch, die vollständig reversibel sind.

3.3.1.2. Im Zuge eines mehrstufigen Verfahrens sind vorrangig vorhandene Humandaten, danach vorhandene Tierversuchsdaten, gefolgt von In-vitro-Daten, und schließlich andere Informationsquellen heranzuziehen. Entsprechen die Daten den Kriterien, führt dies unmittelbar zur Einstufung. In einigen Fällen erfolgt die Einstufung eines Stoffs oder Gemischs anhand einer Ermittlung der Beweiskraft innerhalb einer Stufe. Im Zuge eines reinen Verfahrens mit Ermittlung der Beweiskraft werden alle verfügbaren Informationen zur Feststellung einer schweren Augenschädigung/Augenreizung zusammen betrachtet, einschließlich der Ergebnisse geeigneter validierter Invitro-Tests, einschlägiger Tierversuchsdaten, und Humandaten, wie z.B. epidemiologische und klinische Studien sowie gut dokumentierte Fallberichte und Beobachtungen (siehe Anhang I Teil 1 Abschnitte 1.1.1.3).

3.3.2 Einstufungskriterien für Stoffe

Stoffe werden einer der Kategorien innerhalb dieser Gefahrenklasse (Kategorie 1: schwere Augenschädigung, oder Kategorie 2: Augenreizung) wie folgt zugeordnet:

  1. Kategorie 1 (schwere Augenschädigung):
    Stoffe, bei denen ein Potenzial für eine schwere Schädigung der Augen besteht (siehe Tabelle 3.3.1).
  2. Kategorie 2 (Augenreizung):
    Stoffe, bei denen ein Potenzial für eine reversible Reizung der Augen besteht (siehe Tabelle 3.3.2).

3.3.2.1 Einstufung anhand von Tierversuchsdaten

3.3.2.1.1 Schwere Augenschädigung (Kategorie 1)

3.3.2.1.1.1 Für Stoffe, die das Potenzial für eine schwere Augenschädigung aufweisen, wird eine einzige Gefahrenkategorie (Kategorie 1) festgelegt. Als Kriterien für diese Gefahrenkategorie gelten die in Tabelle 3.3.1 aufgeführten Beobachtungen. Diese Beobachtungen umfassen Tiere mit Hornhautschäden des Grades 4 und andere schwere, zu einem beliebigen Zeitpunkt während des Versuchs beobachtete Reaktionen (z.B. Hornhautzerstörung) sowie Tiere mit dauerhafter Hornhauttrübung, Verfärbung der Hornhaut durch einen Farbstoff, Anhaften, Pannus und Beeinträchtigungen der Funktion der Regenbogenhaut oder andere Wirkungen, die das Sehvermögen beeinträchtigen. In diesem Zusammenhang gelten jene Verletzungen als dauerhaft, die sich in einem Beobachtungszeitraum von in der Regel 21 Tagen nicht vollständig zurückbilden. Die Gefahreneinstufung in Kategorie 1 gilt auch für Stoffe, die den Kriterien einer Hornhauttrübung des Grades > 3 oder einer Iritis des Grades > 1,5 bei mindestens 2 von 3 getesteten Tieren entsprechen, da derartige schwere Verletzungen in einer Beobachtungszeit von 21 Tagen normalerweise nicht reversibel sind.

3.3.2.1.1.2 Die Verwendung von Humandaten wird in Abschnitt 3.3.2.2 sowie in den Abschnitten 1.1.1.3, 1.1.1.4 und 1.1.1.5 erörtert.

Tabelle 3.3.1 Schwere Augenschädigung a

KategorieKriterien
Kategorie 1Der Stoff erzeugt:
  1. bei mindestens einem Tier Wirkungen auf die Horn-, Regenbogen- oder Bindehaut, bei denen nicht mit einer Rückbildung zu rechnen ist oder die sich in einer Beobachtungszeit von normalerweise 21 Tagen nicht vollständig zurückgebildet haben, und/oder
  2. bei mindestens 2 von 3 Versuchstieren eine positive Reaktion in Form:
    1. einer Hornhauttrübung des Grades > 3 und/oder
    2. einer Iritis des Grades > 1,5, berechnet als Mittelwerte bei Befundung nach 24, 48 und 72 Stunden nach Einbringen des Prüfmaterials.
a) Die Kriterien für die Bewertung der Schwere von Reaktionen gelten im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 440/2008.

3.3.2.1.2 Augenreizung (Kategorie 2)

3.3.2.1.2.1 Stoffe, die reversible Augenreizungen verursachen können, werden in Kategorie 2 (Augenreizung) eingestuft.

3.3.2.1.2.2 Bei Stoffen, bei denen die Reaktionen der Versuchstiere ausgesprochen unterschiedlich ausfallen, ist dies bei der Einstufung zu berücksichtigen.

3.3.2.1.2.3 Die Verwendung von Humandaten wird in Abschnitt 3.3.2.2 sowie in den Abschnitten 1.1.1.3, 1.1.1.4 und 1.1.1.5 erörtert.

Tabelle 3.3.2 Augenreizung a

KategorieKriterien
Kategorie 2Stoffe mit einer positiven Reaktion bei mindestens 2 von 3 Versuchstieren in Form:
  1. einer Hornhauttrübung des Grades > 1 und/oder
  2. einer Iritis des Grades > 1 und/oder
  3. einer Bindehautrötung des Grades > 2 und/oder
  4. eines Bindehautödems (Chemosis) des Grades > 2,

berechnet als Mittelwerte bei Befundung nach 24, 48 und 72 Stunden nach Aufbringen des Prüfmaterials, die sich innerhalb einer Beobachtungszeit von normalerweise 21 Tagen vollständig zurückbilden.

a) Die Kriterien für die Bewertung der Schwere von Reaktionen gelten im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 440/2008.

3.3.2.2 Die Einstufung in einem mehrstufigen Verfahren

3.3.2.2.1 Für die Bewertung der Datenausgangslage ist gegebenenfalls ein mehrstufiges Verfahren zu beachten, wobei zu bedenken ist, dass möglicherweise nicht alle Elemente relevant sind.

3.3.2.2.2 Vorhandene Daten über Erfahrungen beim Menschen und aus Tierversuchen stellen erste Anhaltspunkte für die Bewertung dar, da sie für Wirkungen auf das Auge unmittelbar relevante Aussagen ergeben. Bevor ein Test auf schwere Augenschädigung/Augenreizung in Betracht gezogen wird, ist der Stoff im Hinblick auf seine mögliche Ätzwirkung auf die Haut zu beurteilen, um die Prüfung von Stoffen mit Ätzwirkung auf die Haut auf lokale Wirkungen am Auge zu vermeiden. Bei Stoffen mit einer Ätzwirkung auf die Haut ist davon auszugehen, dass sie auch eine schwere Augenschädigung (Kategorie 1) hervorrufen, und bei hautreizenden Stoffen kann davon ausgegangen werden, dass sie eine Augenreizung (Kategorie 2) hervorrufen.

3.3.2.2.3 Auch Invitro-Alternativen, die validiert und akzeptiert worden sind, sind für Entscheidungen über die Einstufung hinzuzuziehen.

3.3.2.2.4 Genauso können Stoffe mit extremen pH-Werten von < 2 und > 11,5 ein Indiz für eine schwere Augenschädigung sein, insbesondere wenn sie mit einer starken sauren/alkalischen Reserve (Pufferkapazität) einhergehen. In der Regel geht man bei solchen Stoffen davon aus, dass sie ausgeprägte Wirkungen auf die Augen haben. Liegen keine anderen Informationen vor, gilt, dass ein Stoff eine schwere Augenschädigung (Kategorie 1) verursacht, wenn er einen pH-Wert von < 2 bzw. einen pH-Wert > 11,5 aufweist. Nimmt man jedoch an, dass der Stoff aufgrund der sauren/ alkalischen Reserve trotz des niedrigen oder hohen pH-Werts möglicherweise keine schwere Augenschädigung verursacht, so ist dies durch weitere Daten zu bestätigen, vorzugsweise durch die Daten einer geeigneten validierten Invitro-Prüfung.

3.3.2.2.5 In einigen Fällen können die über strukturell verwandte Stoffe vorliegenden Informationen ausreichen, um über eine Einstufung zu entscheiden.

3.3.2.2.6 Das mehrstufige Verfahren bietet eine Anleitung dafür, wie die vorliegenden Informationen über einen Stoff zu organisieren sind und wie eine Beweiskraftentscheidung über die Gefahrenbewertung und -einstufung zu treffen ist. Tierversuche mit ätzenden Stoffen sind möglichst zu vermeiden. Obgleich sich auch aus der Bewertung einzelner, auf einer Stufe liegender Parameter (siehe Abschnitt 3.3.2.1.1) Informationen gewinnen lassen, sind doch die vorliegenden Informationen in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen, und es ist daraufhin eine umfassende Ermittlung der Beweiskraft der Daten vorzunehmen. Dies gilt vor allem dann, wenn die zu manchen Parametern verfügbaren Informationen widersprüchlich sind.

3.3.3 Einstufungskriterien für Gemische

3.3.3.1 Einstufung von Gemischen, wenn Daten für das komplette Gemisch vorliegen

3.3.3.1.1 Gemische sind nach denselben Kriterien wie Stoffe einzustufen, wobei das mehrstufige Verfahren zur Bewertung der Daten für die jeweilige Gefahrenklasse zu berücksichtigen ist.

3.3.3.1.2 Wenn sie die Prüfung eines Gemischs erwägen, sollten die für die Einstufung zuständigen Personen ein mehrstufiges Verfahren zur Ermittlung der Beweiskraft der Daten einsetzen, wie in den Kriterien für die Einstufung von Stoffen nach ihrer Ätzwirkung auf die Haut und ihrer schweren Augenschädigung/Augenreizung beschrieben, damit zum einen eine angemessene Einstufung gewährleistet ist und zum anderen unnötige Tierversuche vermieden werden. Liegen keine anderen Informationen vor, gilt, dass ein Gemisch eine schwere Augenschädigung (Kategorie 1) verursacht, wenn es einen pH-Wert von < 2 bzw. einen pH-Wert > 11,5 aufweist. Nimmt man jedoch an, dass das Gemisch aufgrund der sauren/alkalischen Reserve trotz des niedrigen oder hohen pH-Werts möglicherweise keine schwere Augenschädigung verursacht, so ist dies durch weitere Daten zu bestätigen, vorzugsweise durch die Daten einer geeigneten validierten Invitro-Prüfung.

3.3.3.2 Einstufung von Gemischen, bei denen keine Daten für das komplette Gemisch vorliegen: Übertragungsgrundsätze

3.3.3.2.1 Wurde nicht das Gemisch selbst auf seine Ätzwirkung auf die Haut oder sein Potenzial, eine schwere Augenschädigung/Augenreizung zu verursachen, geprüft, liegen jedoch ausreichende Daten über seine einzelnen Bestandteile und über ähnliche geprüfte Gemische vor, um die Gefahren des Gemischs angemessen zu beschreiben, dann sind diese Daten nach Maßgabe der Übertragungsvorschriften des Abschnitts 1.1.3 zu verwenden.

3.3.3.3 Einstufung von Gemischen, wenn Daten für alle oder nur manche Bestandteile des Gemisches vorliegen

3.3.3.3.1 Um alle verfügbaren Daten zur Einstufung von Gemischen aufgrund ihrer schwer augenschädigenden oder augenreizenden Eigenschaften zu nutzen, wurde folgende Annahme getroffen, die gegebenenfalls im Rahmen des mehrstufigen Verfahrens angewandt wird:

Als "relevante Bestandteile" eines Gemischs gelten jene, die in Konzentrationen von > 1 % (in Gewichtsprozent (w/w) bei Feststoffen, Flüssigkeiten, Stäuben, Nebeln und Dämpfen, in Volumenprozent (v/v) bei Gasen) vorliegen, sofern (z.B. bei Bestandteilen mit Ätzwirkung auf die Haut) kein Anlass zu der Annahme besteht, dass ein in einer Konzentration von < 1 % enthaltener Bestandteil dennoch für die Einstufung des Gemischs aufgrund einer schweren Augenschädigung/ Augenreizung relevant ist.

3.3.3.3.2 Generell beruht die Vorgehensweise bei der Einstufung von Gemischen als schwer augenschädigend/ augenreizend, wenn zwar Daten über die Bestandteile, nicht aber über das Gemisch insgesamt vorliegen, auf dem Additivitätsprinzip, so dass jeder hautätzende oder schwer augenschädigende/ augenreizende Bestandteil proportional zu seiner Stärke und Konzentration zu der schwer augenschädigenden oder augenreizenden Gesamteigenschaft des Gemisches beiträgt. Auf hautätzende oder schwer augenschädigende Bestandteile wird ein Gewichtungsfaktor von 10 angewandt, wenn sie in einer Konzentration vorliegen, die zwar unter dem allgemeinen Konzentrationsgrenzwert für die Einstufung in die Kategorie 1 liegt, diese Konzentration jedoch zur Einstufung des Gemischs als augenreizend beiträgt.Das Gemisch wird als schwer augenschädigend oder als augenreizend eingestuft, wenn die Summe der Konzentrationen solcher Bestandteile einen Konzentrationsgrenzwert überschreitet.

3.3.3.3.3 Tabelle 3.3.3 enthält die allgemeinen Konzentrationsgrenzwerte, nach denen ein Gemisch als schwer augenschädigend oder augenreizend einzustufen ist.

3.3.3.3.4.1. Besondere Vorsicht ist bei der Einstufung bestimmter Gemische geboten, die Stoffe wie Säuren und Basen, anorganische Salze, Aldehyde, Phenole und Tenside enthalten. Hier lässt sich die in den Abschnitten 3.3.3.3.1 und 3.3.3.3.2 erläuterte Verfahrensweise eventuell nicht anwenden, da viele dieser Stoffe bereits bei Konzentrationen von < 1 % schwer augenschädigend oder augenreizend wirken.

3.3.3.3.4.2. Bei Gemischen, die starke Säuren oder Basen enthalten, ist der pH-Wert als Einstufungskriterium zu verwenden (siehe Abschnitt 3.3.3.1.2), da der pH-Wert (unter Berücksichtigung der Überlegungen zur sauren/alkalischen Reserve) ein besserer Indikator für eine schwere Augenschädigung ist als die allgemeinen Konzentrationsgrenzwerte der Tabelle 3.3.3.

3.3.3.3.4.3. Bei einem Gemisch mit hautätzenden oder schwer augenschädigenden/augenreizenden Bestandteilen, das sich nicht mit Hilfe des Additivitätsprinzips (Tabelle 3.3.3) einstufen lässt, weil seine chemischen Eigenschaften dieses Prinzip nicht zulassen, wird wie folgt verfahren: Es ist als schwere Augenschädigung (Kategorie 1) einzustufen, wenn es > 1 % eines Bestandteiles mit Ätzwirkung auf die Haut oder schwerer Augenschädigung enthält, und es ist als Augenreizung (Kategorie 2) einzustufen, wenn es > 3 % eines augenreizenden Bestandteils enthält. Die Einstufung von Gemischen mit Bestandteilen, auf die die Vorgehensweise nach Tabelle 3.3.3 nicht anwendbar ist, ist in Tabelle 3.3.4 zusammengefasst.

3.3.3.3.5 Manchmal können zuverlässige Daten zeigen, dass die schwere Augenschädigung/Augenreizung eines Bestandteiles auch bei Erreichen oder Überschreiten der allgemeinen Konzentrationsgrenzwerte der Tabellen 3.3.3 und 3.3.4 in Abschnitt 3.3.3.3.6 nicht erkennbar ist. Dann ist das Gemisch anhand dieser Daten einzustufen (siehe auch Artikel 10 und 11). In anderen Fällen, in denen man davon ausgeht, dass die Ätzwirkung auf die Haut/Hautreizung oder die schwere Augenschädigung/ Augenreizung eines Bestandteils nicht erkennbar ist, wenn dessen Konzentration die allgemeinen Konzentrationsgrenzwerte der Tabellen 3.3.3 und 3.3.4 erreicht oder überschreitet, ist eine Prüfung des Gemisches in Erwägung zu ziehen. Dann ist das mehrstufige Verfahren zur Ermittlung der Beweiskraft der Daten anzuwenden.

3.3.3.3.6 Zeigt die Datenlage, dass ein oder mehrere Bestandteile bei einer Konzentration von < 1 % (ätzend für die Haut oder schwer augenschädigend) oder < 3 % (augenreizend) eine ätzende Wirkung für die Haut oder schwer augenschädigende/augenreizende Wirkung haben können, ist das Gemisch entsprechend einzustufen.

Tabelle 3.3.3: Allgemeine Konzentrationsgrenzwerte für Bestandteile, die als Ätzwirkung auf die Haut (Kategorie 1, 1A, 1B oder 1C) und/oder als schwere Augenschädigung (Kategorie 1) oder als Augenreizung (Kategorie 2) eingestuft sind, die zur Einstufung des Gemisches als schwere Augenschädigung/Augenreizung führen, wenn das Additivitätsprinzip anwendbar ist

Summe der Bestandteile, die eingestuft sind als:Konzentration, die zu folgender Einstufung des Gemisches führt:
Schwere AugenschädigungAugenreizung
Kategorie 1Kategorie 2
Ätzwirkung auf die Haut Unterkategorien 1A, 1B, 1C oder Kategorie 1 + schwere Augenschädigung (Kategorie 1) a> 3 %> 1 % aber < 3 %
Augenreizung (Kategorie 2)> 10 %
10 × (Ätzwirkung auf die Haut Unterkategorien 1A, 1B, 1C oder Kategorie 1 + schwere Augenschädigung (Kategorie 1)) + Augenreizung (Kategorie 2)> 10 %
a) Ist ein Bestandteil sowohl als Ätzwirkung auf die Haut Unterkategorien 1A, 1B, 1C oder Kategorie 1, als auch als schwere Augenschädigung (Kategorie 1) eingestuft, wird seine Konzentration bei der Berechnung nur einmal berücksichtigt.

Tabelle 3.3.4: Allgemeine Konzentrationsgrenzwerte der Bestandteile, die zur Einstufung des Gemischs als schwere Augenschädigung (Kategorie 1) oder Augenreizung (Kategorie 2) führen, wenn das Additivitätsprinzip nicht anwendbar ist

BestandteilKonzentrationGemisch eingestuft als:
Sauer mit pH-Wert < 2> 1 %Schwere Augenschädigung
(Kategorie 1)
Basisch mit pH-Wert > 11,5> 1 %Schwere Augenschädigung
(Kategorie 1)
Anderer Bestandteil, der als Ätzwirkung auf die Haut (Unterkategorien 1A, 1B, 1C oder Kategorie 1) oder schwere Augenschädigung (Kategorie 1) eingestuft ist> 1 %Schwere Augenschädigung
(Kategorie 1)
Anderer Bestandteil, der als Augenreizung (Kategorie 2) eingestuft ist3 %Augenreizung (Kategorie 2)

3.3.4 Gefahrenkommunikation

3.3.4.1 Bei Stoffen oder Gemischen, die die Kriterien für die Einstufung in diese Gefahrenklasse erfüllen, sind die Kennzeichnungselemente gemäß Tabelle 3.3.5 zu verwenden.

Tabelle 3.3.5: Kennzeichnungselemente für schwere Augenschädigung/Augenreizung a

Einstufung

Kategorie 1Kategorie 2
GHS-Piktogramm
SignalwortGefahrAchtung
GefahrenhinweisH318: Verursacht schwere AugenschädenH319: Verursacht schwere Augenreizung
Sicherheitshinweise - PräventionP280P264
P280
Sicherheitshinweise - ReaktionP305 + P351 + P338
P310
P305 + P351 + P338
P337 + P313
Sicherheitshinweise - Lagerung  
Sicherheitshinweise - Entsorgung  
a) Ist ein chemischer Stoff als Ätzwirkung auf die Haut (Unterkategorien 1A, 1B, 1C oder Kategorie 1) eingestuft, kann die Kennzeichnung für schwere Augenschädigung/Augenreizung entfallen, da diese Information bereits im Gefahrenhinweis für die Ätzwirkung auf die Haut der Kategorie 1 (H314) enthalten ist.

3.4 Sensibilisierung der Atemwege oder der Haut

3.4.1 Begriffsbestimmungen und allgemeine Erwägungen

3.4.1.1 19 Sensibilisierung der Atemwege: eine Überempfindlichkeit der Atemwege nach dem Einatmen eines Stoffes oder Gemisches.

3.4.1.2 19 Sensibilisierung der Haut: eine allergische Reaktion, die nach einem Hautkontakt mit einem Stoff oder einem Gemisch auftritt.

3.4.1.3 Für die Zwecke vorliegenden Abschnitts wird die Sensibilisierung in zwei Phasen unterteilt: In der ersten Phase (Induktion) entwickelt sich nach Exposition gegenüber einem Allergen ein spezielles immunologisches Gedächtnis. Die zweite Phase besteht in der Auslösung einer zell- oder antikörpervermittelten allergischen Reaktion bei Exposition eines sensibilisierten Individuums gegenüber einem Allergen (Auslösephase).

3.4.1.4 Wie die Hautsensibilisierung zeigt auch die Sensibilisierung der Atemwege das gleiche Muster einer Induktion gefolgt von Auslösephasen. Auch bei der Hautsensibilisierung ist eine Induktionsphase erforderlich, in der das Immunsystem erst lernt zu reagieren; klinische Symptome können dann auftreten, wenn eine weitere Exposition ausreicht, um eine sichtbare Reaktion des Epithels hervorzurufen (Auslösephase). Prädiktive Tests folgen daher normalerweise diesem Muster mit einer Induktionsphase, wobei die spätere Allergieantwort mit einer standardisierten Auslösephase erfasst wird, die üblicherweise aus einem Epikutantest (Patchtest) besteht. Der lokale Lymphknotentest ist insofern eine Ausnahme, als mit ihm die Induktionsreaktion direkt gemessen wird. Nachweise für eine Hautsensibilisierung beim Menschen werden in der Regel über einen diagnostischen Epikutantest bewertet.

3.4.1.5 Sowohl bei der Haut- als auch bei der Atemwegssensibilisierung erfolgt die Auslösung bereits bei einer niedrigeren Exposition als die Induktion. Vorschriften zur Warnung sensibilisierter Personen vor einem besonderen Allergen in einem Gemisch sind in Anhang II Abschnitt 2.8 zu finden.

3.4.1.6 Die Gefahrenklasse der Sensibilisierung von Atemwegen oder Haut gliedert sich in:

3.4.2 Einstufungskriterien für Stoffe

3.4.2.1 Inhalationsallergene

3.4.2.1.1 Gefahrenkategorien

3.4.2.1.1.1 Inhalationsallergene sind in die Kategorie 1 einzustufen, wenn die Daten für die Einstufung in eine Unterkategorie nicht ausreichen.

3.4.2.1.1.2 Bei ausreichender Datenlage ermöglicht es eine verfeinerte Bewertung nach Abschnitt 3.4.2.1.1.3, ein Inhalationsallergen als starkes Allergen in Unterkategorie 1A oder als sonstiges Inhalationsallergen in Unterkategorie 1B einzustufen.

3.4.2.1.1.3 Entweder beim Menschen oder beim Tier beobachtete Wirkungen begründen in der Regel eine über das Verfahren der Beweiskraftermittlung erfolgende Einstufung als Inhalationsallergen. Stoffe können im Wege der Beweiskraftermittlung anhand der Kriterien von Tabelle 3.4.1 und aufgrund zuverlässiger und hochwertiger Nachweise aus Fallstudien, epidemiologischen Studien und/oder Beobachtungen bei geeigneten Studien an Versuchstieren einer der beiden Unterkategorien 1A oder 1B zugeordnet werden.

3.4.2.1.1.4 Stoffe sind nach den Kriterien von Tabelle 3.4.1 als Inhalationsallergene einzustufen:

Tabelle 3.4.1: Gefahrenkategorie und Gefahrenunterkategorien für Inhalationsallergene

KategorieKriterien
Kategorie 1Falls die Daten für die Einstufung von Stoffen in Unterkategorien nicht ausreichend sind, sind diese nach folgenden Kriterien als Inhalationsallergene (Kategorie 1) einzustufen:
  1. aufgrund von Nachweisen beim Menschen, dass der Stoff eine spezifische Überempfindlichkeit der Atemwege verursachen kann, und/oder
  2. aufgrund positiver Befunde aus einem geeigneten Tierversuch.
Unterkategorie 1A:Stoffe, bei denen es besonders häufig zu einem Auftreten beim Menschen kommt oder bei denen das Auftreten einer hohen Sensibilisierungsrate beim Menschen aufgrund von Tierversuchen oder anderen Versuchen wahrscheinlich ist *. Auch die Schwere der Reaktion kann berücksichtigt werden.
Unterkategorie 1B:Stoffe, bei denen es mit geringer oder mäßiger Häufigkeit zu einem Auftreten beim Menschen kommt oder bei denen aufgrund von Tierversuchen oder anderen Versuchen das Auftreten einer niedrigen bis mäßigen Sensibilisierungsrate beim Menschen wahrscheinlich ist *. Auch die Schwere der Reaktion kann berücksichtigt werden.
*) Zum heutigen Zeitpunkt ist noch kein etabliertes und validiertes Tiermodell für die Prüfung der Überempfindlichkeit der Atemwege verfügbar. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Beurteilung der Beweiskraft von aus Tierstudien stammenden Daten wertvolle Informationen liefern.

3.4.2.1.2 Erfahrungen beim Menschen

3.4.2.1.2.1 Nachweise dafür, dass ein Stoff eine spezifische Überempfindlichkeit der Atemwege hervorrufen kann, ergeben sich in der Regel aus Erfahrungen beim Menschen. Die Überempfindlichkeit äußert sich dabei üblicherweise als Asthma, jedoch können auch andere Überempfindlichkeitsreaktionen wie Rhinitis/Konjunktivitis und Alveolitis auftreten. Hierbei handelt es sich um klinische Erscheinungsbilder einer allergischen Reaktion. Der Nachweis eines immunologischen Mechanismus ist hier nicht erforderlich.

3.4.2.1.2.2. Bei der Bewertung der Erfahrungen beim Menschen ist für eine Entscheidung über die Einstufung zusätzlich zu den fallbezogenen Nachweisen Folgendes zu berücksichtigen:

  1. der Umfang der exponierten Bevölkerungsgruppe,
  2. das Ausmaß der Exposition.

Die Verwendung von Humandaten wird in den Abschnitten 1.1.1.3, 1.1.1.4 und 1.1.1.5 behandelt.

3.4.2.1.2.3. Die oben genannten Nachweise können sein:

  1. die Krankengeschichte und Daten aus geeigneten Lungenfunktionsprüfungen im Zusammenhang mit der Exposition gegenüber diesem Stoff, gestützt durch weitere Nachweise wie:
    1. immunologische Untersuchungen in vivo (z.B. Prick-Test),
    2. immunologische Untersuchungen in vitro (z.B. serologische Tests),
    3. Studien, die andere spezifische Überempfindlichkeitsreaktionen anzeigen können, bei denen aber keine immunologischen Wirkmechanismen nachgewiesen wurden (z.B. wiederholte geringfügige Reizung, pharmakologisch vermittelte Wirkungen),
    4. Ähnlichkeit mit der chemischen Struktur von Stoffen, die bekanntermaßen Atemwegsüberempfindlichkeit hervorrufen;
  2. Daten aus einem oder mehreren positiven bronchialen Provokationstests, die mit dem Stoff gemäß anerkannten Leitlinien für die Bestimmung spezifischer Überempfindlichkeitsreaktionen durchgeführt wurden.

3.4.2.1.2.4. Die Krankengeschichte muss die medizinische und die berufliche Vorgeschichte des Patienten berücksichtigen, um einen Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber einem bestimmten Stoff und der Entstehung einer Überempfindlichkeit der Atemwege herleiten zu können. In Betracht zu ziehen sind hierbei weitere ins Gewicht fallende Faktoren, sowohl aus dem häuslichen Bereich als auch vom Arbeitsplatz, Beginn und Verlauf der Krankheit, die familiäre Vorgeschichte und die Krankengeschichte des betroffenen Patienten. Die Krankengeschichte muss auch Aufschluss über andere allergische Erkrankungen oder Atemwegsbeschwerden von Kindheit an sowie die Rauchgewohnheiten geben.

3.4.2.1.2.5. Positive bronchiale Provokationstests allein gelten schon als ausreichende Belege für eine Einstufung. In der Praxis werden allerdings viele Befunde der vorgenannten Untersuchungen bereits vorliegen.

3.4.2.1.3. Tierstudien

3.4.2.1.3.1. 19 Zu den Daten aus geeigneten Tierstudien *, die als Hinweis darauf gewertet werden können, dass ein Stoff beim Einatmen Sensibilisierungen beim Menschen ** hervorrufen kann, gehören beispielsweise:

  1. Bestimmung des Immunglobulin E (IgE) und anderer spezifischer immunologischer Parameter, beispielsweise an Mäusen,
  2. spezifische Lungenreaktionen bei Meerschweinchen.

______
*) Zum heutigen Zeitpunkt ist noch kein etabliertes und validiertes Tiermodell für die Prüfung der Überempfindlichkeit der Atemwege verfügbar. Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Beurteilung der Beweiskraft von aus Tierstudien stammenden Daten wertvolle Informationen liefern.

**) Die Mechanismen, über die ein Stoff Asthmasymptome hervorruft, sind noch nicht vollständig bekannt. Zu Präventionszwecken gelten diese Stoffe jedoch als Atemwegsallergene. Lässt sich anhand der Datenlage allerdings nachweisen, dass diese Stoffe nur bei Personen mit bronchialer Überempfindlichkeit Asthmasymptome durch Reizung erzeugen, sind sie nicht als Atemwegsallergene zu betrachten.

3.4.2.2 Hautallergene

3.4.2.2.1 Gefahrenkategorien

3.4.2.2.1.1. Hautallergene sind in die Kategorie 1 einzustufen, wenn die Daten für die Einstufung in eine Unterkategorie nicht ausreichen.

3.4.2.2.1.2. Bei ausreichender Datenlage ermöglicht es eine verfeinerte Bewertung nach Abschnitt 3.4.2.2.1.3, ein Hautallergen als starkes Allergen in Unterkategorie 1A oder als sonstiges Hautallergen in Unterkategorie 1B einzustufen.

3.4.2.2.1.3. Entweder beim Menschen oder beim Tier beobachtete Wirkungen begründen in der Regel eine über das Verfahren der Beweiskraftermittlung erfolgende Einstufung als Hautallergen gemäß Abschnitt 3.4.2.2.2. Stoffe können im Wege der Beweiskraftermittlung anhand der Kriterien von Tabelle 3.4.2 und aufgrund zuverässiger und hochwertiger Nachweise, die aus Fallstudien, epidemiologischen Studien und/oder Beobachtungen bei geeigneten Studien an Versuchstieren entsprechend den Leitwerten in den Abschnitten 3.4.2.2.2.1 und 3.4.2.2.3.2 bei Unterkategorie 1A und den Leitwerten in den Abschnitten 3.4.2.2.2.2 und 3.4.2.2.3.3 bei Unterkategorie 1B abgeleitet wurden, einer der beiden Unterkategorien 1A oder 1B zugeordnet werden.

3.4.2.2.1.4. Stoffe sind nach den Kriterien von Tabelle 3.4.2 als Hautallergene einzustufen:

Tabelle 3.4.2: Gefahrenkategorie und Gefahrenunterkategorien für Hautallergene

KategorieKriterien
Kategorie 1Falls die Daten für die Einstufung von Stoffen in Unterkategorien nicht ausreichend sind, sind diese nach folgenden Kriterien als Hautallergene (Kategorie 1) einzustufen:
  1. aufgrund von Nachweisen beim Menschen, dass der Stoff bei einer erheblichen Anzahl von Personen eine Sensibilisierung durch Hautkontakt verursachen kann oder
  2. aufgrund positiver Befunde aus einem geeigneten Tierversuch (siehe dazu die spezifischen Kriterien in Abschnitt 3.4.2.2.4.1).
Unterkategorie 1A:Es ist davon auszugehen, dass Stoffe, bei denen es sehr häufig zu einem Auftreten beim Menschen kommt und/oder bei denen eine hohe Sensibilisierungsstärke beim Tier zu beobachten ist, beim Menschen eine erhebliche Sensibilisierung auslösen können. Auch die Schwere der Reaktion kann berücksichtigt werden.
Unterkategorie 1B:Es ist davon auszugehen, dass Stoffe, bei denen es mit geringer bis mäßiger Häufigkeit zu einem Auftreten beim Menschen kommt und/oder bei denen eine geringe bis mäßige Sensibilisierungsstärke beim Tier zu beobachten ist, beim Menschen eine Sensibilisierung auslösen können. Auch die Schwere der Reaktion kann berücksichtigt werden.

3.4.2.2.2 Erfahrungen beim Menschen

3.4.2.2.2.1 Die Nachweise für die Unterkategorie 1A aufgrund von Erfahrungen beim Menschen können Folgendes umfassen:

  1. positive Reaktionen bei < 500 µg/cm2 (HRIPT, HMT - Induzierungsschwelle);
  2. Ergebnisse diagnostischer Epikutantests, bei denen in einer definierten Population eine relativ hohe und bedeutende Inzidenz von Reaktionen im Verhältnis zu einer relativ geringen Exposition auftritt;
  3. andere epidemiologische Nachweise, bei denen eine relativ hohe und bedeutende Inzidenz von allergischen Kontaktdermatitiden im Verhältnis zu einer relativ geringen Exposition auftritt.

3.4.2.2.2.2 Die Nachweise für die Unterkategorie 1B aufgrund von Erfahrungen beim Menschen können Folgendes umfassen:

  1. positive Reaktionen bei > 500 µg/cm2 (HRIPT, HMT - Induktionsschwelle);
  2. Ergebnisse diagnostischer Epikutantests, bei denen in einer definierten Population eine relativ geringe, aber bedeutende Inzidenz von Reaktionen im Verhältnis zu einer relativ starken Exposition auftritt;
  3. andere epidemiologische Nachweise, bei denen eine relativ geringe, aber bedeutende Inzidenz von allergischen Kontaktdermatitiden im Verhältnis zu einer relativ starken Exposition auftritt.

Die Verwendung von Humandaten wird in den Abschnitten 1.1.1.3, 1.1.1.4 und 1.1.1.5 behandelt.

3.4.2.2.3 Tierstudien

3.4.2.2.3.1 Für Kategorie 1 gilt bei der Anwendung einer Adjuvans-Prüfmethode für die Sensibilisierung der Haut eine Reaktion bei mindestens 30 % der Versuchstiere als positiver Befund. Bei einem Test ohne Adjuvans an Meerschweinchen gilt eine Reaktion bei mindestens 15 % der Versuchstiere als positiver Befund. Für Kategorie 1 gilt ein Stimulationsindex von Drei oder höher beim lokalen Lymphknotentest als positiver Befund. Testmethoden zur Hautsensibilisierung sind in der OECD-Leitlinie 406 (Meerschweinchen-Maximierungstest und Meerschweinchentest nach Bühler) und der OECD-Leitlinie 429 (lokaler Lymphknotentest) beschrieben. Andere Methoden sind zulässig, sofern sie ordnungsgemäß validiert sind und eine wissenschaftliche Begründung angegeben wird. Der MEST (Mouse Ear Swelling Test) wäre beispielsweise ein zuverlässiger Screening-Test für die Erkennung mäßiger bis starker Allergene und könnte als erste Stufe bei der Bewertung des Hautsensibilisierungspotenzials verwendet werden.

3.4.2.2.3.2 Die Ergebnisse von Tierversuchen für die Unterkategorie 1A können Daten mit den Werten nach Tabelle 3.4.3 umfassen:

Tabelle 3.4.3 Ergebnisse von Tierversuchen für die Unterkategorie 1A

AssayKriterien
Lokaler LymphknotentestEC3-Wert < 2 %
Meerschweinchen-Maximierungstest> 30 % mit Reaktion bei < 0,1 % der intradermalen Induktionsdosis oder

> 60 % mit Reaktion bei > 0,1 % bis < 1 % der intradermalen Induktionsdosis

Bühler-Assay> 15 % mit Reaktion bei < 0,2 % der topischen Induktionsdosis oder

> 60 % mit Reaktion bei > 0,2 % bis < 20 % der topischen Induktionsdosis

3.4.2.2.3.3. Die Ergebnisse von Tierversuchen für die Unterkategorie 1B können Daten mit den Werten nach Tabelle 3.4.4 umfassen:

Tabelle 3.4.4 Ergebnisse von Tierversuchen für die Unterkategorie 1B

AssayKriterien
Lokaler LymphknotentestEC3-Wert > 2 %
Meerschweinchen-Maximierungstest> 30 % bis < 60 % mit Reaktion bei > 0,1 % bis < 1 % der intradermalen Induktionsdosis oder

> 30 % mit Reaktion bei > 1 % der intradermalen Induktionsdosis

Bühler-Assay> 15 % bis < 60 % mit Reaktion bei > 0,2 % bis < 20 % der topischen Induktionsdosis oder

> 15 % mit Reaktion bei > 20 % der topischen Induktionsdosis

3.4.2.2.4 Besondere Erwägungen

3.4.2.2.4.1 Zur Einstufung eines Stoffes müssen einer oder mehrere der folgenden Nachweise vorliegen und einer Beweiskraftermittlung unterzogen werden:

  1. positive Daten aus Epikutantests, in der Regel aus mehr als einer dermatologischen Klinik;
  2. epidemiologische Untersuchungen, die zeigen, dass der Stoff eine allergische Kontaktdermatitis verursacht. Besonders aufmerksam sind Fälle zu betrachten, in denen ein hoher Anteil der Exponierten charakteristische Symptome zeigt, selbst wenn die Zahl der Fälle insgesamt klein ist;
  3. positive Daten aus geeigneten Tierstudien;
  4. positive Daten aus experimentellen Studien an menschlichen Probanden (siehe Abschnitt 1.3.2.4.7);
  5. gut dokumentierte Fälle von allergischer Kontaktdermatitis, in der Regel aus mehr als einer dermatologischen Klinik;
  6. auch die Schwere der Reaktion kann berücksichtigt werden.

3.4.2.2.4.2. Nachweise aus Studien an Tieren sind generell weit zuverlässiger als aus der Exposition von Menschen gewonnene Nachweise. Falls Nachweise aus beiden Quellen verfügbar sind und die Ergebnisse einander widersprechen, müssen allerdings Qualität und Zuverlässigkeit der Nachweise aus beiden Quellen bewertet werden, um die Frage der Einstufung von Fall zu Fall beantworten zu können. Normalerweise werden Erfahrungen beim Menschen nicht aus kontrollierten Versuchen mit Freiwilligen zu Einstufungszwecken, sondern vielmehr im Rahmen einer Risikobewertung zur Bestätigung negativer Tierversuche gewonnen. Positive Daten über eine Hautsensibilisierung beim Menschen stammen daher gewöhnlich aus Fall-Kontroll-Studien oder anderen weniger klar definierten Untersuchungen. Derartige Befunde müssen deshalb sorgfältig bewertet werden, weil die Häufigkeit der Fälle neben den intrinsischen Stoffeigenschaften auch Faktoren wie die Exposition, Bioverfügbarkeit, individuelle Prädisposition und die ergriffenen Vorsichtsmaßnahmen widerspiegelt. Negative Erfahrungen beim Menschen sollten normalerweise keine positiven Befunde aus Tierstudien widerlegen. Sowohl bei den an Menschen als auch bei den an Tieren gewonnenen Daten ist die Wirkung des Vehikels zu berücksichtigen.

3.4.2.2.4.3. Trifft keine der vorstehenden Bedingungen zu, erübrigt sich eine Einstufung des Stoffes als Hautallergen. Allerdings kann eine Kombination von zwei oder mehreren der nachstehend aufgeführten Indikatoren für die Hautsensibilisierung zu einer anderen Entscheidung führen. Dies ist von Fall zu Fall zu prüfen.

  1. Isoliert auftretende Fälle allergischer Kontaktdermatitis;
  2. epidemiologische Untersuchungen von begrenzter Aussagekraft, weil beispielsweise Zufall oder Störfaktoren ("bias", "confounding") nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit vollständig ausgeschlossen worden sind;
  3. Daten aus Tierversuchen, die nach geltenden Standards durchgeführt wurden und deren Ergebnisse die in Abschnitt 3.4.2.2.3 angegebenen Kriterien für einen positiven Befund zwar nicht erfüllen, sich jedoch diesen so weit nähern, dass sie als positiver Hinweis gelten können;
  4. durch andere als Standardverfahren gewonnene positive Befunde;
  5. Positive Ergebnisse von strukturell eng verwandten Analoga.

3.4.2.2.4.4. Immunologische Kontakturtikaria

Stoffe, die die Kriterien für die Einstufung als Inhalationsallergene erfüllen, können außerdem immunologische Kontakturtikaria verursachen. Hier ist zu erwägen, ob diese Stoffe auch als Hautallergene einzustufen sind. Bei Stoffen, die eine immunologische Kontakturtikaria hervorrufen, jedoch nicht den Kriterien für Inhalationsallergene genügen, sollte auch geprüft werden, ob sie als Hautallergen eingestuft werden sollten.

Es ist noch kein anerkanntes Tiermodell verfügbar, um Stoffe zu erkennen, die immunologische Kontakturtikaria hervorrufen. Die Einstufung erfolgt deshalb in der Regel aufgrund von Erfahrungen beim Menschen, die denen bei der Hautsensibilisierung ähneln.

3.4.3 Einstufungskriterien für Gemische

3.4.3.1 Einstufung von Gemischen, bei denen Daten für das komplette Gemisch vorliegen

3.4.3.1.1 Liegen für das Gemisch zuverlässige und qualitativ hochwertige Daten aus Erfahrungen beim Menschen oder aus geeigneten Studien an Versuchstieren vor, wie bei den Kriterien für Stoffe beschrieben, dann kann das Gemisch durch Ermittlung der Beweiskraft dieser Daten eingestuft werden. Bei der Bewertung der Daten zu Gemischen muss man sich sorgfältig vergewissern, dass die Ergebnisse in Bezug auf die Expositionshöhen schlüssig sind.

3.4.3.2 Einstufung von Gemischen, bei denen keine Daten für das komplette Gemisch vorliegen: Übertragungsgrundsätze

3.4.3.2.1 Wurde nicht das Gemisch selbst auf seine sensibilisierenden Eigenschaften geprüft, liegen jedoch ausreichende Daten über seine einzelnen Bestandteile und über ähnliche geprüfte Gemische vor, um die Gefahren des Gemisches angemessen zu beschreiben, dann sind diese Daten nach Maßgabe der Übertragungsvorschriften des Abschnitts 1.1.3 zu verwenden.

3.4.3.3 Einstufung von Gemischen, wenn Daten für alle oder nur manche Bestandteile des Gemisches vorliegen

3.4.3.3.1 Das Gemisch ist als Inhalations- oder Hautallergen einzustufen, wenn mindestens einer seiner Bestandteile als Inhalations- oder Hautallergen eingestuft worden ist und dessen Konzentration den jeweiligen allgemeinen Konzentrationsgrenzwert für Feststoffe/Flüssigkeiten und Gase gemäß Tabelle 3.4.5 erreicht oder übersteigt.

3.4.3.3.2 13 Einige Stoffe, die als Allergene eingestuft sind, können bei einzelnen Personen, die gegenüber dem Stoff oder Gemisch bereits sensibilisiert sind, eine Reaktion hervorrufen, wenn sie in einem Gemisch in Mengen enthalten sind, die unter den in Tabelle 3.4.5 festgelegten Konzentrationen liegen (siehe Hinweis 1 zu Tabelle 3.4.6).

Tabelle 3.4.5 Allgemeine Konzentrationsgrenzwerte der entweder als Inhalations- oder als Hautallergene eingestuften Bestandteile eines Gemisches, die zur Einstufung des Gemisches führen

Bestandteil eingestuft alsAllgemeine Konzentrationsgrenzwerte, die zu folgender Einstufung des Gemisches führen:
sensibilisierend für die Atemwege
Kategorie 1
hautsensibilisierend
Kategorie 1
fest/flüssiggasförmigalle Aggregatzustände
sensibilisierend für die Atemwege
Kategorie 1
> 1,0 %> 0,2 % 
sensibilisierend für die Atemwege
Unterkategorie 1A
> 0,1 %> 0,1 % 
sensibilisierend für die Atemwege
Unterkategorie 1B
> 1,0 %> 0,2 % 
hautsensibilisierend
Kategorie 1
  > 1,0 %
Hautsensibilisierend
Unterkategorie 1A
  > 0,1 %
hautsensibilisierend
Unterkategorie 1B
  > 1,0 %

Tabelle 3.4.6 Konzentrationsgrenzwerte für die Auslösung einer allergischen Reaktion durch Bestandteile eines Gemisches

Bestandteil eingestuft alsKonzentrationsgrenzwerte für die Auslösung einer allergischen Reaktion
Sensibilisierend für die Atemwege
Kategorie 1
Hautsensibilisierend
Kategorie 1
fest/flüssiggasförmigalle Aggregatzustände
sensibilisierend für die Atemwege
Kategorie 1
> 0,1 %
(Hinweis 1)
> 0,1 %
(Hinweis 1)
 
sensibilisierend für die Atemwege
Unterkategorie 1A
> 0,01 %
(Hinweis 1)
> 0,01 %
(Hinweis 1)
 
sensibilisierend für die Atemwege
Unterkategorie 1B
> 0,1 %
(Hinweis 1)
> 0,1 %
(Hinweis 1)
 
hautsensibilisierend
Kategorie 1
  > 0,1 %
(Hinweis 1)
hautsensibilisierend
Unterkategorie 1A
  > 0,01 %
(Hinweis 1)
hautsensibilisierend
Unterkategorie 1B
  > 0,1 %
(Hinweis 1)
Hinweis 1: 13 19
Dieser Konzentrationsgrenzwert für die Auslösung einer allergischen Reaktion wird für die Anwendung der besonderen Kennzeichnungsvorschriften gemäß Anhang II Abschnitt 2.8 eingesetzt, um bereits sensibilisierte Personen zu schützen. Enthält das Gemisch einen Bestandteil, der diese Konzentration erreicht oder überschreitet, ist ein Sicherheitsdatenblatt erforderlich. Bei sensibilisierenden Stoffen mit einem spezifischen Konzentrationsgrenzwert ist der Konzentrationsgrenzwert für die Auslösung einer allergischen Reaktion auf ein Zehntel des spezifischen Konzentrationsgrenzwerts festzulegen.

3.4.4 Gefahrenkommunikation

3.4.4.1 Bei Stoffen oder Gemischen, die die Kriterien für die Einstufung in diese Gefahrenklasse erfüllen, sind die Kennzeichnungselemente gemäß Tabelle 3.4.7 zu verwenden.

Tabelle 3.4.7: Kennzeichnungselemente für die Sensibilisierung der Haut oder der Atemwege 13

EinstufungSensibilisierung der AtemwegeSensibilisierung der Haut
Kategorie 1 und Unterkategorien 1A und 1BKategorie 1 und Unterkategorien 1A und 1B
GHS-Piktogramm
SignalwortGefahrAchtung
GefahrenhinweisH334: Kann bei Einatmen Allergie, asthmaartige Symptome oder Atembeschwerden verursachen.H317: Kann allergische Hautreaktionen verursachen
Sicherheitshinweise -
Prävention
P261
P284
P261
P272
P280
Sicherheitshinweise -
Reaktion
P304 + P340
P342 + P311
P302 + P352
P333 + P313
P321
P362 + P364
Sicherheitshinweise -
Lagerung
Sicherheitshinweise -
Entsorgung
P501P501


3.5 Keimzellmutagenität

3.5.1 Begriffsbestimmungen und allgemeine Erwägungen

3.5.1.1 19Keimzellmutagenität: vererbbare Genmutationen, einschließlich vererbbare strukturelle und numerische Chromosomenaberrationen in Keimzellen, die nach der Exposition gegenüber einem Stoff oder einem Gemisch auftreten.

3.5.1.2 19Mutation: eine dauerhafte Veränderung von Menge oder Struktur des genetischen Materials einer Zelle. Der Begriff "Mutation" gilt sowohl für vererbbare genetische Veränderungen, die sich im Phänotyp ausdrücken können, als auch für die zugrunde liegenden DNA-Veränderungen, sofern sie bekannt sind (einschließlich spezifischer Basenpaar-Veränderungen und chromosomaler Translokationen). Die Begriffe "mutagen/keimzellmutagen" und "Mutagen" werden bei Stoffen verwendet, die zu einer gesteigerten Mutationshäufigkeit in Populationen von Zellen und/oder Organismen führen.

3.5.1.3 19 Die allgemeineren Begriffe "genotoxisch" und "Genotoxizität" werden bei Stoffen oder Prozessen verwendet, die die Struktur, den Informationsgehalt oder Segregation von DNA verändern, darunter auch solche, die durch die Störung normaler Replikationsabläufe DNA-Schäden verursachen oder die die DNA-Replikation auf nichtphysiologische Weise (vorübergehend) verändern. Die Ergebnisse von Genotoxizitätsprüfungen dienen in der Regel als Indikatoren für mutagene Wirkungen.

3.5.2 Einstufungskriterien für Stoffe

3.5.2.1 Diese Gefahrenklasse betrifft hauptsächlich Stoffe, die Mutationen in den Keimzellen von Menschen auslösen können, die an die Nachkommen weitergegeben werden können. Bei der Einstufung von Stoffen und Gemischen in dieser Gefahrenklasse finden jedoch auch die Ergebnisse von Mutagenitäts - oder Genotoxizitätsprüfungen Berücksichtigung, die in vitro und an Soma- und Keimzellen von Säugern in vivo durchgeführt werden.

3.5.2.2 Für die Zwecke der Einstufung aufgrund der Keimzellmutagenität werden die Stoffe einer der beiden Kategorien gemäß Tabelle 3.5.1 zugeordnet.

Tabelle 3.5.1: Gefahrenkategorien für Keimzell-Mutagene

KategorienKriterien
Kategorie 1:Stoffe, die bekanntermaßen vererbbare Mutationen verursachen oder die so angesehen werden sollten, als wenn sie vererbbare Mutationen an menschlichen Keimzellen auslösen Stoffe, die bekanntermaßen vererbbare Mutationen in Keimzellen von Menschen verursachen
Kategorie 1A:Die Einstufung in die Kategorie 1A beruht auf positiven Befunden aus epidemiologischen Studien an Menschen.

Stoffe, die so angesehen werden sollten, als wenn sie vererbbare Mutationen an menschlichen Keimzellen auslösen

Kategorie 1B:Die Einstufung in Kategorie 1B beruht auf:
  • positiven Befunden von In-vivo-Prüfungen auf vererbbare Keimzellmutagenität bei Säugern oder
  • positiven Befunden von In-vivo Mutagenitätsprüfungen an Somazellen von Säugern in Verbindung mit Hinweisen darauf, dass der Stoff das Potenzial hat, an Keimzellen Mutationen zu verursachen. Diese unterstützenden Nachweise können sich beispielsweise aus in vivo Mutagenitäts-/Genotoxizitäts-Prüfungen an Keimzellen ergeben oder aus dem Aufzeigen der Fähigkeit des Stoffes oder seines/-r Metaboliten mit dem genetischen Material von Keimzellen zu interagieren, oder
  • positiven Befunden von Prüfungen, die mutagene Wirkungen an Keimzellen von Menschen zeigen, allerdings ohne Nachweis der Weitergabe an die Nachkommen; dazu gehört beispielsweise eine Zunahme der Aneuploidierate in Spermien exponierter Personen.
Kategorie 2:Stoffe, die für Menschen bedenklich sind, weil sie möglicherweise vererbbare Mutationen in Keimzellen von Menschen auslösen können Einstufungen in Kategorie 2 beruhen auf:
  • positiven Befunden bei Versuchen an Säugern und/oder in manchen Fällen aus In-vitro-Versuchen, die erhalten wurden aus:
    • In-vivo-Mutagenitätsprüfungen an Somazellen von Säugern oder
    • anderen In-vivo-Genotoxizitätsprüfungen an Somazellen, die durch positive Befunde aus In- vitro Mutagenitäts-Prüfungen gestützt werden.

Hinweis: Stoffe mit positiven Befunden aus In-vitro Mutagenitäts-Prüfungen bei Säugern, die zudem eine chemische Struktur-Wirkungs-Beziehung zu bekannten Keimzellmutagenen aufweisen, sind auf eine Einstufung als keimzellmutagen der Kategorie 2 zu prüfen.

3.5.2.3 Besondere Erwägungen für die Einstufung von Stoffen als Keimzellmutagene

3.5.2.3.1 Zum Zwecke der Einstufung werden die Prüfergebnisse von Versuchen zur Ermittlung der mutagenen und/ oder genotoxischen Wirkungen in den Keim- und/oder Somazellen von exponierten Tieren berücksichtigt. Mutagene und/oder genotoxische Wirkungen, die mittels in vitro Prüfungen ermittelt wurden, sind ebenfalls zu berücksichtigen.

3.5.2.3.2 Das System ist gefahrenbasiert und sieht vor, dass Stoffe anhand ihrer intrinsischen Fähigkeit zur Erzeugung von Mutationen in Keimzellen eingestuft werden. Daher ist dieses Schema auch nicht für die (quantitative) Risikobewertung von Stoffen gedacht.

3.5.2.3.3 Die Einstufung nach vererbbaren Wirkungen auf menschliche Keimzellen erfolgt anhand ordnungsgemäß durchgeführter und ausreichend validierter Versuche, vorzugsweise wie sie in der Verordnung (EG) Nr. 440/2008, die nach Artikel 13 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006 erlassen wurde ("Prüfmethodenverordnung" beschrieben sind, wie die in den folgenden Absätzen aufgeführten Versuche. Die Versuchsergebnisse sind mit Hilfe einer Beurteilung durch Experten vorzunehmen und alle verfügbaren Daten sind einer ihrer Ermittlung der Beweiskraft zu unterziehen, um zu einer Einstufung zu gelangen.

3.5.2.3.4 In-vivo-Prüfungen auf vererbbare Keimzell-Mutagenität wie etwa:

3.5.2.3.5 16 19 In-vivo-Mutagenitätsprüfungen an Somazellen wie etwa:

3.5.2.3.6 Mutagenitäts-/Genotoxizitätsprüfungen an Keimzellen wie etwa:

  1. Mutagenitätsprüfungen:
  2. Genotoxizitätsprüfungen:

3.5.2.3.7 Genotoxizitätsprüfungen an Somazellen wie etwa:

3.5.2.3.8 In-vitro-Mutagenitätstests wie etwa:

3.5.2.3.9 Die Einstufung einzelner Stoffe erfolgt mit Hilfe einer Beurteilung durch Experten auf der Grundlage der Beweiskraft sämtlicher verfügbaren Daten (siehe Abschnitt 1.1.1). Wird ein einzelner ordnungsgemäß durchgeführter Versuch zur Einstufung herangezogen, muss dieser klare und eindeutig positive Befunde ergeben. Wenn neue, ordnungsgemäß validierte Testverfahren verfügbar werden, dann können sie auch zur Beurteilung der Beweiskraft sämtlicher Daten herangezogen werden. Auch die Relevanz des in der Studie verwendeten Expositionswegs des Stoffes im Vergleich zum wahrscheinlichsten Expositionsweg beim Menschen ist zu berücksichtigen.

3.5.3 Einstufungskriterien für Gemische

3.5.3.1 Einstufung von Gemischen, wenn Daten für alle oder nur manche Bestandteile des Gemisches vorliegen

3.5.3.1.1 Gemische werden als mutagen eingestuft, wenn mindestens ein Bestandteil als Mutagen der Kategorie 1A, der Kategorie 1B oder der Kategorie 2 eingestuft worden ist und seine Konzentration die entsprechenden allgemeinen Konzentrationsgrenzwert für Kategorie 1A, Kategorie 1B oder Kategorie 2 gemäß Tabelle 3.5.2 erreicht oder übersteigt.

Tabelle 3.5.2: Allgemeine Konzentrationsgrenzwerte von als keimzellmutagen eingestuften Bestandteilen eines Gemisches, die zur Einstufung des Gemisches führen 13

Bestandteil eingestuft als:Konzentrationsgrenzwerte, die zur Einstufung des Gemisches in folgende Kategorie führen:
Mutagen der Kategorie 1Mutagen der Kategorie 2
Kategorie 1AKategorie 1B
Mutagen der Kategorie 1A> 0,1 %--
Mutagen der Kategorie 1B-> 0,1 %-
Mutagen der Kategorie 2--> 1,0 %
Hinweis:
Die Konzentrationsgrenzwerte der vorstehenden Tabelle gelten für Feststoffe und Flüssigkeiten (in w/w) sowie für Gase (in v/v).

3.5.3.2 Einstufung von Gemischen, bei denen Daten für das komplette Gemisch vorliegen

3.5.3.2.1 Die Einstufung von Gemischen beruht auf den verfügbaren Testdaten für die einzelnen Bestandteile des Gemisches, wobei Konzentrationsgrenzwerte für Bestandteile gelten, die als Keimzell-Mutagene eingestuft sind. Im Einzelfall können Versuchsdaten für Gemische zur Einstufung herangezogen werden, wenn sie auf Wirkungen hinweisen, die bei einer Beurteilung der einzelnen Bestandteile nicht zu erkennen waren. In solchen Fällen ist nachzuweisen, dass die Versuchsergebnisse für das Gemisch insgesamt schlüssig sind, wobei die eingesetzten Dosen und weitere Faktoren wie Expositionsdauer, weitere Beobachtungen, Empfindlichkeit und statistische Analyse des jeweiligen Keimzellmutagenitätsprüfsystems zu berücksichtigen sind. Es sind geeignete Unterlagen zur Begründung der Einstufung aufzubewahren und auf Verlangen zur Überprüfung vorzulegen.

3.5.3.3 Einstufung von Gemischen, bei denen keine Daten für das komplette Gemisch vorliegen: Übertragungsgrundsätze

3.5.3.3.1 Wurde das Gemisch selbst nicht auf seine Keimzellmutagenität geprüft, liegen jedoch (vorbehaltlich des Abschnittes 3.5.3.2.1) ausreichende Daten über seine Einzelbestandteile und über ähnliche geprüfte Gemische vor, um die Gefahren des Gemisches angemessen zu beschreiben, dann sind diese Daten nach Maßgabe der Übertragungsvorschriften des Abschnitts 1.1.3 zu verwenden.

3.5.4 Gefahrenkommunikation

3.5.4.1 Bei Stoffen oder Gemischen, die die Kriterien für die Einstufung in diese Gefahrenklasse erfüllen, sind die Kennzeichnungselemente gemäß Tabelle 3.5.3 zu verwenden.

Tabelle 3.5.3: Kennzeichnungselemente für Keimzellmutagenität 13

EinstufungKategorie 1
(Kategorien 1A, 1B)
Kategorie 2
GHS-Piktogramm
SignalwortGefahrAchtung
GefahrenhinweisH340: Kann genetische Defekte verursachen (Expositionsweg angeben, sofern schlüssig belegt ist, dass diese Gefahr bei keinem anderen Expositionsweg besteht)H341: Kann vermutlich genetische Defekte verursachen (Expositionsweg angeben, sofern schlüssig belegt ist, dass diese Gefahr bei keinem anderen Expositionsweg besteht)
Sicherheitshinweise - PräventionP201
P202
P280
P201
P202
P280
Sicherheitshinweise - ReaktionP308 + P313P308 + P313
Sicherheitshinweise - LagerungP405P405
Sicherheitshinweise - EntsorgungP501P501

3.5.5 Zusätzliche Erwägungen für die Einstufung

Es ist zunehmend anerkannt, dass die durch chemische Stoffe ausgelöste Karzinogenese beim Menschen und beim Tier zu genetischen Veränderungen beispielsweise von Protoonkogenen und/oder Tumorsuppressorgenen von Somazellen führt. Daher kann der In-vivo-Nachweis von keimzellmutagenen Eigenschaften eines Stoffes bei Soma- und/oder Keimzellen von Säugetieren Auswirkungen auf die potenzielle Einstufung dieser Stoffe als karzinogen haben (siehe auch Karzinogenität, Kapitel 3.6, Abschnitt 3.6.2.2.6).

3.6 Karzinogenität

3.6.1 Begriffsbestimmung

3.6.1.1 19 Karzinogenität: die Verursachung von Krebs oder eine Zunahme der Krebsinzidenz, die nach der Exposition gegenüber einem Stoff oder Gemisch auftritt. Bei Stoffen und Gemischen, die in ordnungsgemäß durchgeführten Tierstudien gutartige und bösartige Tumore induziert haben, ist ebenfalls von der Annahme auszugehen, dass die Exposition eines Menschen gegenüber dem Stoff wahrscheinlich Krebs erzeugen kann, sofern nicht eindeutige Nachweise dafür vorliegen, dass der Mechanismus der Tumorbildung beim Menschen nicht von Bedeutung ist.

Die Einstufung, nach der von einem Stoff oder Gemisch eine Gefahr einer karzinogenen Wirkung ausgeht, beruht auf seinen inhärenten Eigenschaften und liefert keine Informationen über das Ausmaß des durch den Stoff oder das Gemisch verursachten Krebsrisikos für den Menschen.

3.6.2 Einstufungskriterien für Stoffe

3.6.2.1 Zur Einstufung nach ihrer karzinogenen Wirkung werden Stoffe anhand der Aussagekraft der Nachweise und zusätzlicher Erwägungen (Beweiskraft der Daten) einer von zwei Kategorien zugeordnet. In manchen Fällen kann auch eine Einstufung nach dem jeweiligen Expositionsweg gerechtfertigt sein, sofern schlüssig nachgewiesen werden kann, dass bei keinem anderen Expositionsweg Gefahren bestehen.

Tabelle 3.6.1: Gefahrenkategorien für karzinogene Stoffe

Kategorien

Kriterien
KATEGORIE 1:Bekanntermaßen oder wahrscheinlich beim Menschen karzinogen

Ein Stoff wird anhand epidemiologischer und/oder Tierversuchsdaten als karzinogen der Kategorie 1 eingestuft. Die Einstufung eines Stoffes kann weiter wie folgt differenziert werden:

Kategorie 1A:Kategorie 1A für Stoffe, die bekanntermaßen beim Menschen karzinogen sind; die Einstufung erfolgt überwiegend aufgrund von Nachweisen beim Menschen;
Kategorie 1B:Kategorie 1B, für Stoffe, die wahrscheinlich beim Menschen karzinogen sind; die Einstufung erfolgt überwiegend aufgrund von Nachweisen bei Tieren.

Die Einstufung in Kategorie 1A und 1B beruht auf der Aussagekraft der Nachweise in Verbindung mit zusätzlichen Hinweisen (siehe Abschnitt 3.6.2.2).

Diese Nachweise können entweder:

  • aus epidemiologischen Studien, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Exposition von Menschen gegenüber einem Stoff und der Entwicklung von Krebs herstellen (bekanntes Humankarzinogen), oder
  • aus Tierversuchen stammen, deren Beweiskraft ausreicht 1, eine karzinogene Wirkung beim Tier (wahrscheinliches Humankarzinogen) nachzuweisen.

Darüber hinaus kann es im Einzelfall aufgrund einer wissenschaftlichen Beurteilung gerechtfertigt sein, eine Entscheidung über die wahrscheinliche karzinogene Wirkung beim Menschen auf Untersuchungen zu stützen, die nur begrenzte Nachweise auf eine karzinogene Wirkung beim Menschen in Verbindung mit begrenzten Nachweisen bei Versuchstieren ergaben.

KATEGORIE 2:Verdacht auf karzinogene Wirkung beim Menschen

Die Einstufung eines Stoffes in Kategorie 2 erfolgt aufgrund von Nachweisen aus Studien an Mensch und/oder Tier, die jedoch nicht hinreichend genug für eine Einstufung des Stoffes in Kategorie 1A oder 1B sind, anhand der Aussagekraft der Nachweise und zusätzlicher Hinweise (siehe Abschnitt 3.6.2.2). Solche Nachweise können entweder aus Studien beim Menschen, die einen Verdacht auf karzinogene Wirkung 1 begründen, oder aus Tierstudien, die einen Verdacht karzinogene Wirkungen ergeben, stammen.

1) Hinweis: siehe 3.6.2.2.4.

3.6.2.2 Besondere Erwägungen für die Einstufung von Stoffen als karzinogen

3.6.2.2.1 Die Einstufung als karzinogen erfolgt aufgrund von Nachweisen, die in zuverlässigen und anerkannten Untersuchungen gewonnen wurden, und betrifft Stoffe mit der intrinsischen Eigenschaft, Krebs zu erzeugen. Die Bewertung muss auf allen vorhandenen Daten beruhen, darunter von Experten begutachtete veröffentlichte Studien und auf zusätzlichen anerkannten Daten.

3.6.2.2.2 Die Einstufung eines Stoffes als karzinogen ist ein Vorgang, der zwei miteinander in Zusammenhang stehende Prozesse beinhaltet: die Bewertung der Stärke der Beweiskraft der Nachweise und die Berücksichtigung aller anderen maßgeblichen Informationen, die für die Einstufung von Stoffen mit möglicher karzinogener Wirkung beim Menschen nach Gefahrenkategorien von Bedeutung sind.

3.6.2.2.3 Die Bewertung der Stärke der Beweiskraft der Nachweise umfasst die quantitative Auswertung der aufgetretenen Tumore in epidemiologischen und tierexperimentellen Studien und die Bestimmung ihrer statistischen Signifikanz. Ausreichende Nachweise beim Menschen lassen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Exposition und der Entwicklung von Krebs erkennen, während ausreichende Nachweise beim Tier einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Stoff und einer erhöhten Tumorhäufigkeit zeigen. Ein Verdacht auf karzinogene Wirkung beim Menschen liegt bei einem positiven Zusammenhang von Exposition und Krebs vor, ein ursächlicher Zusammenhang ist jedoch nicht klar erwiesen. Ein Verdacht auf karzinogene Wirkung besteht, wenn tierexperimentelle Studien zwar auf eine karzinogene Wirkung hindeuten, die Beweiskraft der Daten jedoch nicht als ausreichend erachtet wird. Die Begriffe "ausreichender Nachweis" und Verdacht" werden hier gemäß ihrer Begriffsbestimmung durch die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) verwendet, die wie folgt lautet:

  1. Karzinogenität beim Menschen
    Die relevanten Nachweise auf Karzinogenität aus Erfahrungen beim Menschen führen zur Einstufung in eine der folgenden Kategorien:
  2. Karzinogenität bei Versuchstieren
    Die Karzinogenität bei Versuchstieren kann anhand konventioneller tierexperimenteller Studien, tierexperimenteller Studien an genetisch veränderten Tieren und anderen In-vivo-Studien, die sich auf eine oder mehrere kritische Phasen der Karzinogenese konzentrieren, beurteilt werden. In Ermangelung von Daten aus konventionellen chronischen Tierstudien oder aus anderen Tierstudien mit Neoplasie als Endpunkt sollten durchgängig positive Ergebnisse in verschiedenen Modellen, die sich auf mehrere Phasen im mehrstufigen Prozess der Karzinogenese beziehen, bei der Bewertung des nachgewiesenen Grads der Karzinogenität bei Versuchstieren berücksichtigt werden. Die für eine Karzinogenität bei Versuchstieren relevanten Nachweise werden in eine der folgenden Kategorien eingestuft:

3.6.2.2.4 Zusätzliche Erwägungen (im Rahmen des Konzepts der Ermittlung der Beweiskraft der Daten (s. Abschnitt 1.1.1): Neben der Bewertung der Stärke der Beweiskraft der Studien zu karzinogenen Wirkungen sind einige weitere Faktoren zu berücksichtigen, die einen Einfluss darauf haben, dass von einem Stoff eine Gefahr einer karzinogenen Wirkung für den Menschen ausgeht. Alle Faktoren, die diese Bestimmung beeinflussen, hier zu behandeln, würden zu weit führen, aber auf einige der wichtigsten wird an dieser Stelle eingegangen.

3.6.2.2.5 Die Betrachtung dieser Faktoren kann den Grad der Besorgnis bezüglich der karzinogenen Wirkung beim Menschenerhöhen oder vermindern. Die relative Gewichtung, die jedem einzelnen Faktor zukommt, hängt davon ab, wie umfangreich und wie schlüssig die Nachweise jeweils sind. In der Regel müssen Informationen, die den Grad der Besorgnis abschwächen, umfangreicher sein als Informationen, ihn verstärken. Zusätzliche Erwägungen sind erforderlich bei der Bewertung der Tumorbefunde und anderer Faktoren in einer Fall-zu-Fall-Betrachtung.

3.6.2.2.6 Einige wichtige Faktoren, die bei der Bewertung des Grads der Besorgnis berücksichtigt werden können, sind:

  1. Tumortyp und Hintergrundinzidenz,
  2. Auftreten an mehreren Zielorganen,
  3. Progression von Schädigungen zur Malignität,
  4. verkürzte Tumorlatenz,
  5. eine Wirkung liegt nur für ein Geschlecht oder für beide Geschlechter vor,
  6. eine Wirkung liegt nur für eine oder für mehrere Tierarten vor,
  7. strukturelle Ähnlichkeit mit einem Stoff/mehreren Stoffen, bei dem/denen fundierte Nachweise für eine karzinogene Wirkung vorliegen,
  8. Expositionswege,
  9. Vergleich von Aufnahme, Verteilung, Stoffwechsel und Ausscheidung zwischen Versuchstieren und Menschen,
  10. Die Möglichkeit eines beeinflussenden Effektes einer übermäßigen Toxizität in den Versuchsdosierungen
  11. Wirkungsweise und ihre Relevanz beim Menschen, beispielsweise Zytotoxizität mit Stimulierung des (Zell-)Wachstums, Mitogenese, Immunsuppression, Mutagenität.

    Mutagenität: Es ist unstrittig, dass Ereignisse am genetischen Material eine wichtige Rolle während des gesamten Prozesses der Krebsentstehung spielen. In vivo Nachweise mutagener Wirkungen können daher einen Anhaltspunkt für das karzinogene Potenzial eines Stoffes darstellen.

3.6.2.2.7 Ein Stoff, der nicht auf seine karzinogene Wirkung geprüft worden ist, kann unter bestimmten Umständen in Kategorie 1A, Kategorie 1B oder Kategorie 2 eingestuft werden, wenn Tumordaten von einem strukturell verwandten Stoff vorliegen, die durch die Betrachtung weiterer wichtiger Faktoren deutlich gestützt werden, wie der Bildung gemeinsamer bedeutender Metaboliten, beispielsweise bei Farbstoffen aus Benzidin-Kongeneren.

3.6.2.2.8 Bei der Einstufung ist zu berücksichtigen, ob der Stoff auf bestimmten Expositionswegen resorbiert wird oder nicht, ob es bei den geprüften Expositionswegen nur zur lokalen Tumorbildung am Applikationsort kommt und ob bei geeigneten Prüfungen anderer wichtiger Expositionswege die karzinogene Wirkung ausbleibt.

3.6.2.2.9 Es ist besonders wichtig, dass bei der Einstufung alle Daten berücksichtigt werden, das heißt, auch alles was über die physikalisch-chemischen, toxikokinetischen und toxikodynamischen Eigenschaften des Stoffes bekannt ist, ebenso relevante Informationen von chemischen Analoga, beispielsweise über Struktur-Wirkungs-Beziehungen.

3.6.3 Einstufungskriterien für Gemische

3.6.3.1 Einstufung von Gemischen, wenn Daten für alle oder nur manche Bestandteile des Gemisches vorliegen

3.6.3.1.1 Das Gemisch wird als karzinogen eingestuft, wenn mindestens ein Bestandteil als Karzinogen der Kategorie 1A, der Kategorie 1B oder der Kategorie 2 eingestuft worden ist und seine Konzentration den jeweiligen allgemeinen Konzentrationsgrenzwert für Kategorie 1A, Kategorie 1B oder Kategorie 2 gemäß Tabelle 3.6.2 erreicht oder übersteigt.

Tabelle 3.6.2: Allgemeine Konzentrationsgrenzwerte von als karzinogen eingestuften Bestandteilen eines Gemisches, die zur Einstufung des Gemisches führen 13

Bestandteil eingestuft als:Allgemeine Konzentrationsgrenzwerte, die zu folgender Einstufung des Gemisches führen:
karzinogen der Kategorie 1karzinogen der Kategorie 2
Kategorie 1AKategorie 1B
Karzinogen der Kategorie 1A> 0,1 %--
Karzinogen der Kategorie 1B-> 0,1 %-
Karzinogen der Kategorie 2--> 1,0 % (Hinweis 1)
Hinweis:
Die Konzentrationsgrenzwerte der vorstehenden Tabelle gelten für Feststoffe und Flüssigkeiten (in w/w) sowie für Gase (in v/v).
Hinweis 1:
Liegt in einem Gemisch ein Stoff, der als karzinogen der Kategorie 2 eingestuft wurde, als Bestandteil mit einer Konzentration von > 0,1 % vor, so wird auf Anforderung ein Sicherheitsdatenblatt für das Gemisch vorgelegt.

3.6.3.2 Einstufung von Gemischen, bei denen Daten für das komplette Gemisch vorliegen

3.6.3.2.1 Die Einstufung von Gemischen beruht auf den verfügbaren Testdaten für die einzelnen Bestandteile des Gemisches, wobei Konzentrationsgrenzwerte für die Bestandteile gelten, die als karzinogen eingestuft sind. Im Einzelfall können Versuchsdaten für Gemische zur Einstufung herangezogen werden, wenn sie auf Wirkungen hinweisen, die bei eine reine Beurteilung der einzelnen Bestandteile nicht zu erkennen waren. In solchen Fällen ist nachzuweisen, dass die Versuchsergebnisse für das Gemisch insgesamt schlüssig sind wobei die eingesetzten Dosen und weitere Faktoren wie Expositionsdauer, weitere Beobachtungen, Empfindlichkeit und statistische Analyse der Prüfsysteme für karzinogene Wirkungen zu berücksichtigen sind. Es sind geeignete Unterlagen zur Begründung der Einstufung aufzubewahren und auf Verlangen zur Überprüfung vorzulegen.

3.6.3.3 Einstufung von Gemischen, bei denen keine Daten für das komplette Gemisch vorliegen: Übertragungsgrundsätze

3.6.3.3.1 Wurde das Gemisch selbst nicht auf seine karzinogene Wirkung geprüft, liegen jedoch (vorbehaltlich des Abschnittes 3.6.3.2.1) ausreichende Daten über seine einzelnen Bestandteile und über ähnliche geprüfte Gemische vor, um die Gefahren des Gemisches angemessen zu beschreiben, dann sind diese Daten nach Maßgabe der geltenden Übertragungsvorschriften des Abschnitts 1.1.3 zu verwenden.

3.6.4 Gefahrenkommunikation

3.6.4.1 Bei Stoffen oder Gemischen, die die Kriterien für die Einstufung in diese Gefahrenklasse erfüllen, sind die Kennzeichnungselemente gemäß Tabelle 3.6.3 zu verwenden.

Tabelle 3.6.3: Kennzeichnungselemente für karzinogene Wirkungen 13

EinstufungKategorie 1
(Kategorien 1A, 1B)
Kategorie 2
GHS-Piktogramm
SignalwortGefahrAchtung
GefahrenhinweisH350: Kann Krebs erzeugen
(Expositionsweg angeben, sofern schlüssig belegt ist, dass diese Gefahr bei keinem anderen Expositionsweg besteht)
H351: Kann vermutlich Krebs erzeugen
(Expositionsweg angeben, sofern schlüssig belegt ist, dass diese Gefahr bei keinem anderen Expositionsweg besteht)
Sicherheitshinweise - PräventionP201
P202
P280
P201
P202
P280
Sicherheitshinweise - ReaktionP308 + P313P308 + P313
Sicherheitshinweise - LagerungP405P405
Sicherheitshinweise - EntsorgungP501P501

3.7 Reproduktionstoxizität

3.7.1 Begriffsbestimmungen und allgemeine Erwägungen

3.7.1.1 19 Reproduktionstoxizität: Beeinträchtigungen von Sexualfunktion und Fruchtbarkeit bei Mann und Frau sowie Entwicklungstoxizität bei den Nachkommen, die nach der Exposition gegenüber einem Stoff oder Gemisch auftreten/auftritt. Die nachstehenden Begriffsbestimmungen gehen mit gewissen Anpassungen auf die Arbeitsdefinitionen zurück, die im EHC-Dokument Nr. 225 (Environmental Health Criteria: Umweltgesundheitskriterien) des Internationalen Programms für Chemikaliensicherheit (IPCS - International Programme on Chemical Safety) mit dem Titel "Principles for Evaluating Health Risks to Reproduction Associated with Exposure to Chemicals" vereinbart worden sind. Für die Zwecke der Einstufung wird die bekannte Verursachung genetisch bedingter, an die Nachkommen vererbbarer Folgen in Abschnitt 3.5 "Keimzellmutagenität" behandelt, weil es nach dem vorliegenden Einstufungssystem als zweckmäßiger gilt, derartige Wirkungen in einer eigenen Gefahrenklasse als Keimzellmutagenität zu erfassen.

Bei diesem Einstufungssystem wird die Reproduktionstoxizität folgendermaßen unterteilt:

  1. Beeinträchtigung von Sexualfunktion und Fruchtbarkeit,
  2. Entwicklungsschäden bei den Nachkommen.

Einige reproduktionstoxische Wirkungen lassen sich nicht klar der Beeinträchtigung von Sexualfunktion und Fruchtbarkeit oder der Entwicklungstoxizität zuordnen. Stoffe und Gemische mit diesen Wirkungen werden trotzdem als reproduktionstoxische Stoffe eingestuft und mit einem allgemeinen Gefahrenhinweis versehen.

3.7.1.2 Für die Zwecke der Einstufung wird die Gefahrenklasse Reproduktionstoxizität unterteilt in:

3.7.1.3 Beeinträchtigung von Sexualfunktion und Fruchtbarkeit

Jede Wirkung eines Stoffes, die die Sexualfunktion und die Fruchtbarkeit stören kann. Dazu gehören unter anderem Veränderungen der weiblichen und männlichen Fortpflanzungsorgane, Störungen des Eintritts in die Pubertät, der Gametenbildung und des Gametentransports, der Regelmäßigkeit des Reproduktionszyklus, des Sexualverhaltens, der Fruchtbarkeit, der Geburt, der Schwangerschaft sowie vorzeitiges reproduktives Altern oder Änderungen anderer Funktionen, die von der Unversehrtheit der Fortpflanzungssysteme abhängen.

3.7.1.4 Beeinträchtigung der Entwicklung von Nachkommen

Der Begriff Entwicklungstoxizität umfasst im weitesten Sinne jede Beeinträchtigung der normalen Entwicklung des Konzeptus vor und nach der Geburt aufgrund einer Exposition eines der Elternteile vor der Empfängnis oder aufgrund der Exposition der Nachkommen im Laufe ihrer vorgeburtlichen Entwicklung oder nach der Geburt bis zur Erlangung der Geschlechtsreife. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Einstufung der Entwicklungstoxizität hauptsächlich dazu dient, dass man schwangere Frauen sowie fortpflanzungsfähige Frauen und Männer mit einem entsprechenden Hinweis warnen kann. Aus pragmatischen Einstufungsgründen bezeichnet die Entwicklungstoxizität daher im Wesentlichen die Beeinträchtigungen während der Schwangerschaft oder infolge einer Exposition eines Elternteils. Diese Wirkungen können jederzeit im Leben eines Organismus auftreten. Zu den wichtigsten Erscheinungsformen der Entwicklungstoxizität gehören 1) der Tod des in der Entwicklung befindlichen Organismus, 2) Missbildungen, 3) Wachstumsstörungen und 4) funktionelle Störungen..

3.7.1.5 Beeinträchtigungen der Laktation oder über die Laktation gehören auch zur Reproduktionstoxizität, obgleich sie zu Einstufungszwecken gesondert behandelt werden (siehe Tabelle 3.7.1 b)). Grund dafür ist, dass man in der Lage sein wollte, Stoffe aufgrund der Beeinträchtigung der Laktation separat einzustufen, so dass man stillende Mütter mit einem besonderen Hinweis vor dieser Wirkung warnen kann.

3.7.2 Einstufungskriterien für Stoffe

3.7.2.1 Gefahrenkategorien

3.7.2.1.1 Um Stoffe bezüglich ihrer Reproduktionstoxizität einzustufen, werden sie einer von zwei Kategorien zugeordnet. In jeder Kategorie werden die Auswirkungen auf die Sexualfunktion und Fruchtbarkeit sowie auf die Entwicklung getrennt betrachtet. Zudem werden die Wirkungen auf/über die Laktation einer eigenen Gefahrenkategorie zugeordnet.

Tabelle 3.7.1 a): Gefahrenkategorien für reproduktionstoxische Stoffe

KategorienKriterien
KATEGORIE 1Bekanntermaßen oder wahrscheinlich reproduktionstoxischer Stoff

Stoffe werden dann als reproduktionstoxisch der Kategorie 1 eingestuft, wenn sie beim Menschen bekanntermaßen die Sexualfunktion und Fruchtbarkeit oder die Entwicklung beeinträchtigen oder wenn Befunde aus Tierstudien, möglichst ergänzt durch weitere Informationen, vorliegen, die die deutliche Annahme erlauben, dass der Stoff die Fähigkeit hat, die menschliche Fortpflanzung beeinträchtigen zu können. Die Einstufung eines Stoffes wird weiter danach differenziert, ob die Einstufung überwiegend aufgrund von Befunden beim Menschen (Kategorie 1A) oder bei Tieren (Kategorie 1B) erfolgt.

Kategorie 1ABekanntermaßen reproduktionstoxischer Stoff

Die Einstufung eines Stoffes in die Kategorie 1A beruht weitgehend auf Befunden vom Menschen.

Kategorie 1BWahrscheinlich reproduktionstoxischer Stoff

Die Einstufung eines Stoffes in die Kategorie 1B beruht weitgehend auf Daten aus Tierstudien. Solche Daten müssen deutliche Nachweise für eine Beeinträchtigung der Sexualfunktion und Fruchtbarkeit sowie der Entwicklung bei Fehlen anderer toxischer Wirkungen ergeben; falls sie zusammen mit anderen toxischen Wirkungen auftreten, darf die Beeinträchtigung der Fortpflanzung nicht als sekundäre unspezifische Folge anderer toxischer Wirkungen gelten. Liegen jedoch Informationen zum Wirkmechanismus vor, die die Relevanz der Wirkungen beim Menschen in Frage stellen, kann die Einstufung in Kategorie 2 geeigneter erscheinen.

KATEGORIE 2:Vermutlich reproduktionstoxischer Stoff

Stoffe werden dann als reproduktionstoxisch der Kategorie 2 eingestuft, wenn (eventuell durch weitere Informationen ergänzte) Befunde beim Menschen oder bei Versuchstieren vorliegen, die eine Beeinträchtigung der Sexualfunktion und Fruchtbarkeit oder der Entwicklung nachweisen, diese Nachweise aber nicht stichhaltig genug für eine Einstufung des Stoffes in Kategorie 1 sind. Falls Mängel der Studie die Stichhaltigkeit der Nachweise mindern, könnte eine Einstufung in die Kategorie 2 geeigneter sein.

Solche Wirkungen müssen bei Fehlen anderer toxischer Wirkungen beobachtet worden sein; treten sie aber zusammen mit anderen toxischen Wirkungen auf, darf die Beeinträchtigung der Fortpflanzung nicht als sekundäre unspezifische Folge anderer toxischer Wirkungen gelten.

Tabelle 3.7.1 b): Gefahrenkategorie für Wirkungen auf die Laktation

Wirkungen auf oder über die Laktation

Wirkungen auf oder über die Laktation werden einer eigenen Gefahrenkategorie ohne weitere Unterteilung zugeordnet. Es ist unstrittig, dass es für viele Stoffe keine Informationen über ihr Potenzial zur Schädigung der Nachkommen über die Laktation gibt. Stoffe, die von Frauen aufgenommen werden und nachweislich auf die Laktation wirken oder die (einschließlich ihrer Stoffwechselprodukte) in solchen Mengen in der Muttermilch enthalten sein können, dass sie für die Gesundheit eines gestillten Kindes bedenklich sind, müssen eine Einstufung und Kennzeichnung erhalten, aus der diese für gestillte Säuglinge gefährliche Eigenschaft hervorgeht. Diese Einstufung kann auf folgender Grundlage erfolgen:

  1. Befunde beim Menschen, die auf eine Gefahr für Säuglinge während der Stillzeit hinweisen, und/oder
  2. Ergebnisse tierexperimenteller Studien über eine oder zwei Generationen, die deutliche Nachweise für eine Schädigung der Nachkommen infolge Aufnahme des Stoffes über die Muttermilch oder für eine Verschlechterung der Milchqualität ergeben, und/oder
  3. Absorptions-, Stoffwechsel-, Verteilungs- und Ausscheidungsstudien, die nahelegen, dass der Stoff in möglicherweise toxischen Mengen in der Muttermilch vorhanden ist.

3.7.2.2 Einstufungsgrundlage

3.7.2.2.1 Die Einstufung erfolgt auf der Grundlage der oben aufgeführten geeigneten Kriterien und einer Ermittlung der Beweiskraft der Daten (siehe Abschnitt 1.1.1). Die Einstufung als reproduktionstoxisch ist für Stoffe gedacht, die eine intrinsische spezifische Eigenschaft zur Beeinträchtigung der Fortpflanzung besitzen; sie ist jedoch nicht zulässig für Stoffe, bei denen diese Wirkung lediglich als unspezifische sekundäre Folge anderer toxischer Wirkungen auftritt.

Die Einstufung eines Stoffes richtet sich nach den Gefahrenkategorien in folgender Reihenfolge: Kategorie 1A, Kategorie 1B, Kategorie 2 und die Zusatzkategorie für Wirkungen auf/über Laktation. Wenn ein Stoff die Kriterien für eine Einstufung in beide der Hauptkategorien erfüllt (beispielsweise Kategorie 1B aufgrund der Auswirkungen auf die Sexualfunktion und die Fruchtbarkeit und Kategorie 2 aufgrund von Entwicklungsschäden), dann werden beide Gefahrendifferenzierungen in den jeweiligen Gefahrenhinweisen erwähnt. Die Einstufung in der Zusatzkategorie für Wirkungen auf/über Laktation wird unabhängig von der Einstufung in Kategorie 1A, Kategorie 1B oder Kategorie 2 berücksichtigt.

3.7.2.2.2 Bei der Bewertung der toxischen Wirkungen auf die Entwicklung der Nachkommen ist unbedingt der mögliche Einfluss der maternalen Toxizität zu beachten (siehe Abschnitt 3.7.2.4).

3.7.2.2.3 Damit Befunde beim Menschen als Hauptgrundlage für eine Einstufung in die Kategorie 1A dienen können, muss eine Beeinträchtigung der Fortpflanzung beim Menschen hinreichend belegt sein. Zur Einstufung herangezogene Nachweise stammen im Idealfall aus ordnungsgemäß durchgeführten epidemiologischen Studien, in denen die Verwendung geeigneter Kontrollen, eine ausgewogene Bewertung und eine gebührende Berücksichtigung systematischer Fehler und der Störfaktoren ("bias", "confounding") gewährleistet waren. Weniger fundierte Daten aus Humanstudien sind durch geeignete Daten aus Studien an Versuchstieren zu ergänzen und eine Einstufung in Kategorie 1B ist zu erwägen.

3.7.2.3 Ermittlung der Beweiskraft der Daten

3.7.2.3.1 Die Einstufung als reproduktionstoxisch erfolgt auf der Grundlage einer Ermittlung der Beweiskraft sämtlicher Daten (siehe Abschnitt 1.1.1). Dies bedeutet, dass alle verfügbaren, für die Bestimmung der Reproduktionstoxizität relevanten Informationen zusammen betrachtet werden, wie beispielsweise epidemiologische Studien und Fallberichte, spezielle Reproduktionsstudien in Verbindung mit den Ergebnissen von Untersuchungen der subchronischen und chronischen Wirkung und spezieller Studien an Tieren, aus denen relevante Informationen über die Toxizität für die Fortpflanzungsorgane und damit zusammenhängende endokrine Organe gewonnen werden. Dazu kann auch die Beurteilung von Stoffen gehören, die mit dem untersuchten Stoff chemisch verwandt sind, insbesondere wenn die Informationslage zu diesem Stoff dürftig ist. Die Gewichtung der verfügbaren Nachweise wird von Faktoren beeinflusst wie der Qualität der Studien, der Stimmigkeit ihrer Ergebnisse, der Art und Stärke der Wirkungen, dem Nachweis von maternaler Toxizität in tierexperimentellen Studien, der statistischen Signifikanz von Unterschieden in den Wirkungen zwischen den Gruppen, der Zahl der betroffenen Endpunkte, der Relevanz des Verabreichungswegs beim Menschen und der Vermeidung von systematischen Fehlern. Sowohl positive als auch negative Befunde werden bei der Ermittlung der Beweiskraft der Daten zusammengetragen. Eine einzige positiv ausgefallene Studie, die nach soliden wissenschaftlichen Grundsätzen durchgeführt wurde und statistisch oder biologisch signifikant positive Befunde erbrachte, kann eine Einstufung begründen (siehe auch Abschnitt 3.7.2.2.3).

3.7.2.3.2 Toxikokinetische Studien an Tieren und Menschen, die Ergebnisse von Studien über Wirkort und Wirkungsmechanismus/-weise können den Grad der Besorgnis auf eine reproduktionstoxisiche Wirkung beim Menschen verstärken oder abschwächen. Lässt sich schlüssig nachweisen, dass der/die eindeutig festgestellte Wirkungsmechanismus/-weise für den Menschen nicht relevant ist, oder sind die toxikokinetischen Unterschiede so ausgeprägt, dass die Gefahreneigenschaft mit Sicherheit nicht beim Menschen zum Tragen kommt, dann sollte ein Stoff, der die Fortpflanzung bei Versuchstieren beeinträchtigt, nicht eingestuft werden.

3.7.2.3.3 Falls bei manchen Studien zur Reproduktionstoxizität an Versuchstieren lediglich Wirkungen festgestellt werden, deren toxikologische Bedeutung für gering oder minimal gehalten wird, kann eine Einstufung auch unterbleiben. Zu solchen Wirkungen gehören beispielsweise geringfügige Veränderungen bei Spermienparametern oder der Inzidenz von Spontandefekten beim Fötus, geringfügige Veränderungen des Anteils gewöhnlicher Fötusvariationen, wie sie bei Skelettuntersuchungen beobachtet werden, oder der Fötengewichte oder geringfügige Unterschiede bei der Beurteilung der postnatalen Entwicklung.

3.7.2.3.4 Im Idealfall ist der eindeutige Nachweis einer spezifischen Reproduktionstoxizität mit Daten aus Tierstudien zu erbringen, falls keine anderen systemischen toxischen Wirkungen auftreten. Tritt die Entwicklungstoxizität jedoch zusammen mit anderen toxischen Wirkungen am Muttertier auf, ist der potenzielle Einfluss der allgemeinen schädlichen Wirkungen so umfassend wie möglich zu beurteilen. Dabei sollte man bei der Ermittlung der Beweiskraft der Daten vorzugsweise zunächst die schädlichen Wirkungen auf den Embryo/ Fötus betrachten und dann gemeinsam mit allen anderen Faktoren, die Einfluss auf diese Wirkungen haben, die maternale Toxizität bewerten. Generell dürfen Entwicklungsstörungen, die bei maternal toxischen Dosen beobachtet werden, nicht automatisch unberücksichtigt bleiben. Darüber ist von Fall zu Fall zu entscheiden, je nachdem ob ein ursächlicher Zusammenhang nachzuweisen ist oder widerlegt wird.

3.7.2.3.5 Sind geeignete Informationen verfügbar, ist es wichtig festzustellen, ob die Entwicklungstoxizität durch einen spezifischen maternal vermittelten Mechanismus oder durch einen unspezifischen sekundären Mechanismus wie Stress des Muttertiers und Störung der Homöostase bedingt ist. Generell ist es nicht zulässig, festgestellte Wirkungen am Embryo/Fötus aufgrund einer beobachteten maternalen Toxizität unberücksichtigt zu lassen, außer wenn sich eindeutig zeigen lässt, dass es sich dabei um unspezifische sekundäre Wirkungen handelt. Dies ist vor allem dann nicht zulässig, wenn die Wirkungen auf die Nachkommen relevant sind, zum Beispiel bei irreversiblen Wirkungen wie Missbildungen. In manchen Situationen kann man davon ausgehen, dass die Reproduktionstoxizität eine sekundäre Folge der maternalen Toxizität darstellt, und diese Wirkungen unberücksichtigt lassen, wenn der Stoff so toxisch ist, dass das Wohlergehen der Muttertiere leidet und es zu schwerer Entkräftung kommt, sie ihren Wurf nicht stillen können, dem Zustand höchster Erschöpfung unterliegen oder sterben.

3.7.2.4 Maternale Toxizität

3.7.2.4.1 Die Entwicklung der Nachkommen während der Trächtigkeit und im Laufe der frühen postnatalen Stadien kann durch toxische Wirkungen bei den Muttertieren entweder über unspezifische stressbedingte Mechanismen und eine Störung der Homöostase bei den Muttertieren oder über spezifische maternal vermittelte Mechanismen beeinflusst werden. Bei der Interpretation der Befunde im Hinblick auf die Entscheidung über eine Einstufung ist es wichtig, den möglichen Einfluss der maternalen Toxizität zu berücksichtigen. Hierbei handelt es sich um eine komplexe Fragestellung, da Unklarheiten über den Zusammenhang zwischen der maternalen Toxizität und der Entwicklungstoxizität bestehen. Alle verfügbaren Studien sind einer Beurteilung durch Experten und einer Ermittlung der Beweiskraft der Daten zu unterziehen, um zu bestimmen, welchen Einfluss die maternale Toxizität auf die Einstufung entwicklungsschädigender Wirkungen hatte. Zunächst sind die schädlichen Wirkungen auf den Embryo/Foetus und dann die maternale Toxizität sowie alle anderen Faktoren, die einen Einfluss auf diese Wirkungen gehabt haben können, zu beurteilen, um zu einer Entscheidung über die Einstufung zu gelangen.

3.7.2.4.2 Aufgrund pragmatischer Beobachtungen kann die maternale Toxizität - je nach ihrer Schwere - über unspezifische sekundäre Mechanismen die Entwicklung beeinflussen und beispielsweise vermindertes Fötusgewicht, verzögerte Knochenbildung und möglicherweise Resorptionen sowie bestimmte Missbildungen in einigen Stämmen mancher Tierarten hervorrufen. In den wenigen Studien, in denen der Zusammenhang zwischen Entwicklungsstörungen und allgemeiner maternaler Toxizität untersucht wurde, konnte jedoch kein genereller schlüssiger reproduzierbarer Zusammenhang nachgewiesen werden. Entwicklungsschäden gelten, selbst wenn sie bei Vorliegen einer maternalen Toxizität auftreten, als Nachweis für die Entwicklungstoxizität, es sei denn, es kann im den Einzelfall eindeutig nachgewiesen werden, dass die Entwicklungsschäden eine sekundäre Folge der maternalen Toxizität sind. Zudem ist eine Einstufung zu erwägen, wenn sich bei den Nachkommen eine relevante toxische Wirkung (z.B. irreversible Folgen wie strukturelle Missbildungen, embryonale/fötale Letalität, relevante postnatale funktionelle Defekte) zeigt.

3.7.2.4.3 Bei Stoffen, die nur bei maternaler Toxizität zu Entwicklungsschäden führen, ist nicht automatisch von einer Einstufung abzusehen, selbst wenn ein spezifischer, maternal vermittelter Mechanismus nachgewiesen ist. In diesem Fall kann eine Einstufung in Kategorie 2 geeigneter erscheinen als in Kategorie 1. Ist ein Stoff allerdings so toxisch, dass er den Tod oder eine schwere Entkräftung der Muttertiere zur Folge hat oder dass sie dem Zustand höchster Erschöpfung unterliegen oder nicht mehr in der Lage sind, ihren Wurf zu stillen, ist mit gutem Grund anzunehmen, dass die Entwicklungstoxizität lediglich eine sekundäre Folge der maternalen Toxizität ist, und die Entwicklungsschäden können in Bezug auf ihre Relevanz abgewertet werden. Geringfügige Veränderungen in der Entwicklung, bei nur schwacher Abnahme des Körpergewichts beim Fötus/Jungtier oder nur wenig verzögerter Knochenbildung, führen nicht unbedingt zu einer Einstufung, wenn sie in Verbindung mit maternaler Toxizität auftreten.

3.7.2.4.4 Nachstehend sind einige der Endpunkte aufgeführt, die zur Bewertung der maternalen Effekte herangezogen werden. Etwaige verfügbare Daten zu diesen Endpunkten müssen im Hinblick auf ihre statistische oder biologische Signifikanz und die Dosis-Wirkungs-Beziehung bewertet werden.

Maternale Mortalität:

Eine erhöhte Sterblichkeit bei den behandelten Muttertieren gegenüber der Kontrollgruppe gilt als Nachweis für maternale Toxizität, wenn diese Zunahme in Abhängigkeit von der Dosis auftritt und auf die systemische Toxizität des Prüfstoffes zurückgeführt werden kann. Eine maternale Mortalität von mehr als 10 % gilt als überhöht und die Daten für diese Dosisgruppe sind in der Regel nicht für eine weitere Bewertung in Betracht zu ziehen.

Paarungsindex
(Anzahl der Tiere mit Vaginalpfropf oder Spermien/Anzahl der verpaarten Tiere x 100) 1

____________
1) Natürlich können Paarungsindex und Fruchtbarkeitsindex auch durch die Männchen beeinflusst werden.

Fertilitätssindex
(Anzahl der Tiere mit Implantationen/Anzahl der Paarungen x 100)

Dauer der Trächtigkeit
(falls der Wurf ausgetragen werden kann)

Körpergewicht/Veränderung des Körpergewichts:

Die Betrachtung der Veränderung des Körpergewichts und/oder des angepassten (korrigierten) Körpergewichts des Muttertiers ist in die Bewertung der maternalen Toxizität einzubeziehen, sofern entsprechende Daten verfügbar sind. Die Berechnung der angepassten (korrigierten) mittleren Körpergewichtsveränderung des Muttertiers, die der Differenz zwischen dem Anfangs- und Endgewicht abzüglich des Gebärmuttergewichts bei Trächtigkeit (oder alternativ dazu der Summe der Fötengewichte) entspricht, kann anzeigen, ob es sich um eine maternale oder intrauterine Wirkung handelt. Beim Kaninchen ist der Körpergewichtszuwachs unter Umständen kein zuverlässiger Indikator für die maternale Toxizität, weil Körpergewichtsschwankungen während der Trächtigkeit üblich sind.

Futter- und Wasserverbrauch (sofern relevant): Die Beobachtung eines signifikanten Rückgangs des durchschnittlichen Futter- oder Wasserverbrauchs bei behandelten Muttertieren gegenüber der Kontrollgruppe ist bei der Bewertung der maternalen Toxizität nützlich, vor allem wenn der Prüfstoff über das Futter oder das Trinkwasser verabreicht wird. Veränderungen beim Futter- oder Wasserverbrauch müssen in Verbindung mit dem Körpergewicht des Muttertiers bewertet werden, wenn ermittelt werden soll, ob maternale Toxizität der Grund für die beobachteten Wirkungen ist oder ganz einfach eine geschmackliche Veränderung von Futter oder Wasser durch den Prüfstoff.

Klinische Bewertungen (einschließlich klinischer Anzeichen, Marker, Studien zur Hämatologie oder klinischen Chemie): Auch die Beobachtung einer erhöhten Häufigkeit von signifikanten klinischen Anzeichen von Toxizität bei behandelten Muttertieren gegenüber der Kontrollgruppe ist bei der Bewertung der maternalen Toxizität hilfreich. Soll dies als Grundlage für die Beurteilung der maternalen Toxizität dienen, sind die Art, die Häufigkeit, Schwere und Dauer der klinischen Anzeichen in der Studie festzuhalten. Zu den klinischen Anzeichen einer Intoxikation der Muttertiere gehören: Koma, Erschöpfung, Hyperaktivität, Verlust des Gleichgewichtsreflexes, Ataxie oder Atemnot.

Postmortem-Daten: Ist aus post mortem gewonnenen Befunden eine erhöhte Häufigkeit und/oder Schwere adverser Wirkungen festzustellen, kann dies auf maternale Toxizität hindeuten. Dazu können makroskopische oder mikroskopische pathologische Befunde oder Organgewichtsdaten einschließlich des absoluten Organgewichts, des Gewichtsverhältnisses Organ/Körper oder Organ/Hirn gehören. Die Beobachtung einer signifikanten Veränderung des Durchschnittsgewichts vermuteter Zielorgane von behandelten Muttertieren gegenüber der Kontrollgruppe kann als Nachweis für maternale Toxizität gewertet werden, wenn dies durch histopathologische Befunde an den betroffenen Organen gestützt wird.

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