Überarbeitete Richtlinien für Evakuierungsanalysen für neue und vorhandene Fahrgastschiffe
Vom 05. Dezember 2016
(VkBl. Nr. 24 vom 30.12.2016 S. 834)
(Siehe MSC.1/Rundschreiben 1533)
Az.: 11-3-0
Siehe Fn. *
Präambel
1 Die folgenden Ausführungen sind zur Beachtung und Anleitung für die Anwender dieser Richtlinien vorgesehen:
- Um eine einheitliche Anwendung zu gewährleisten, sind in den Richtlinien typische Vergleichs-Szenarien und zugehörige Daten festgelegt worden.
Daher ist die Zielsetzung der Analyse nicht die Simulation eines konkreten Notfalls, sondern vielmehr eine Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Schiffes bezüglich der Vergleichs-Szenarien.
- Obwohl die Betrachtungsweise für die realistische Simulation von Evakuierungsvorgängen auf Schiffen aus theoretischer und mathematischer Sicht ausreichend entwickelt ist, besteht immer noch ein Defizit an bestätigten Daten (Verifikationsdaten) und praktischen Erfahrungen in ihrer Anwendung.
Sobald von den Mitgliedstaaten entsprechend brauchbare Informationen zur Verfügung gestellt werden, soll die Organisation die in den Richtlinien festgelegten Zahlen, Parameter, Vergleichs-Szenarien und Leistungsanforderungen neu bewerten.
- Nahezu alle in den Richtlinien angewandten Daten und Parameter beruhen auf gesicherten Daten aus den Erfahrungen in öffentlichen Gebäuden.
Die Daten und Ergebnisse aus der laufenden Forschung und Entwicklung untermauern die Wichtigkeit solcher Daten für die Verbesserung der Vorläufigen Richtlinien.
Gleichwohl kann erwartet werden, dass die Simulation dieser Vergleichs-Szenarien den Schiffsentwurf insoweit verbessern wird, als sie unzureichende Fluchteinrichtungen und Stellen mit Staubildung ausweist, Fluchtvorkehrungen optimiert und dadurch die Sicherheit bedeutend verbessert.
2 Aus den oben genannten Überlegungen wird folgendes empfohlen:
- Die Evakuierungsanalyse wird entsprechend den Richtlinien, insbesondere unter Verwendung der darin angegebenen Szenarien und Parameter, durchgeführt.
- Es soll die Zielsetzung sein, den Evakuierungsvorgang anhand von Vergleichsfällen einzuschätzen, statt zu versuchen, die Evakuierung in konkreten Notfallsituationen zu entwickeln.
- Von Vorteil für die Bestätigung der Richtlinien wäre ihre größtmögliche Anwendung bei der Analyse aktueller Ereignisse, bei denen Fahrgäste während einer Übung zu den Sammelplätzen gerufen wurden, oder bei denen ein Fahrgastschiff unter Notfallbedingungen tatsächlich evakuiert worden ist.
- Das Ziel der Evakuierungsanalyse für vorhandene Fahrgastschiffe ist es, Stellen mit Staubildung und/oder kritische Bereiche zu ermitteln und Empfehlungen hinsichtlich der Lage dieser Stellen und kritischen Bereiche an Bord zu geben.
- Angesichts der Tatsache, dass das Unternehmen für die Gewährleistung der Sicherheit von Fahrgästen und Besatzung durch betriebliche Maßnahmen verantwortlich ist, wenn die Ergebnisse einer für ein vorhandenes Fahrgastschiff durchgeführten Analyse aufzeigen, dass die höchstzulässige Evakuierungszeitspanne überschritten wird, hat das Unternehmen sicherzustellen, dass geeignete betriebliche Maßnahmen (z.B. Aktualisierung der Anweisungen für den Notfall an Bord, verbesserte Beschilderung, Notfallbereitschaft der Besatzung usw.) eingeführt werden.
1 Allgemeines
Der Zweck dieses Teils der Richtlinien ist, die Methodik zur Durchführung einer Evakuierungsanalyse aufzuzeigen und insbesondere
- nachzuweisen, dass die in diesen Richtlinien festgelegten Leistungsanforderungen erfüllt werden können,
- Staus, soweit durchführbar, zu erkennen und zu beseitigen, die sich im Verlauf einer Evakuierung bei normaler Bewegung von Fahrgästen und Besatzung entlang der Fluchtwege bilden können, und dabei die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass die Besatzung sich möglicherweise in entgegengesetzter Richtung zur Bewegung der Fahrgäste entlang dieser Fluchtwege bewegen muss,
- den Beweis zu erbringen, dass die Fluchtvorkehrungen ausreichend flexibel sind, um die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass bestimmte Fluchtwege, Sammelplätze, Einbootungsstationen oder Überlebensfahrzeuge infolge eines Unfalls möglicherweise nicht zur Verfügung stehen,
- Bereiche mit starken gegenläufigen und sich kreuzenden Strömen zu erkennen, und
- den Betreibern die bei der Evakuierungsanalyse gewonnenen Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen.
2 Begriffsbestimmungen
2.1 Personenbelegung bezeichnet die Anzahl der Personen, die bei den Berechnungen der Fluchtwege entsprechend Kapitel 13 des Internationalen Codes für Brandsicherheitssysteme (FSS-Code) zugrunde gelegt ist (Entschließung MSC.98(73)).
2.2 Reaktionszeitspanne (R) bezeichnet die Zeitspanne, die Personen benötigen, um auf die Situation zu reagieren.
Diese Zeitspanne beginnt mit der ersten Benachrichtigung über einen Notfall (z.B. Alarmierung) und endet, wenn der Fahrgast die Situation erfasst hat und beginnt, sich in Richtung eines Sammelplatzes zu bewegen.
2.3 Individuelle Laufzeitspanne bezeichnet die Zeitspanne, die für eine Einzelperson entsteht, wenn sie sich von ihrem Ausgangspunkt bewegt, um zum Sammelplatz zu gelangen.
2.4 Individuelle Musterungszeitspanne bezeichnet die Summe der individuellen Reaktionszeitspanne und der individuellen Laufzeitspanne.
2.5 Gesamt-Musterungszeitspanne (tA) bezeichnet die maximale individuelle Musterungszeitspanne
2.6 Gesamt-Laufzeitspanne (T) bezeichnet die Zeitspanne, die alle Personen an Bord benötigen, um sich von ihrem Standort bei der ersten Benachrichtigung aus zu den Sammelplätzen zu begeben.
2.7 Einbootungs- und Aussetzzeitspanne (E + L) ist die für das Verlassen des Schiffes durch alle Personen an Bord erforderliche Zeitspanne, die mit dem Zeitpunkt beginnt, zu dem das Signal zum Verlassen des Schiffes gegeben wird, nachdem sich alle Personen mit angelegten Rettungswesten versammelt haben.
3 Bewertungsmethode
Die Schritte der Evakuierungsanalyse sind wie folgt festgelegt.
3.1 Beschreibung des Systems
- Bestimmen der Sammelplätze für Fahrgäste und Besatzung.
- Bestimmen der Fluchtwege.
3.2 Allgemeine Annahmen
Die vorliegende Methode zur Abschätzung der Evakuierungszeitspanne beruht auf verschiedenen idealisierten Vergleichs-Szenarien und es gelten die folgenden Annahmen:
- Fahrgäste und Besatzung evakuieren entsprechend Regel II-2/13 SOLAS entlang des Hauptfluchtweges zum ihnen zugewiesenen Sammelplatz,
- die Fahrgastbelegung und die Anfangsverteilung beruhen auf Kapitel 13 des Codes für Brandsicherheitssysteme (FSS-Code),
- die Fluchteinrichtungen stehen in vollem Umfang zur Verfügung, sofern nichts anderes angegeben ist,
- die Besatzungsmitglieder stehen unverzüglich an den ihnen im Evakuierungsfall zugewiesenen Stationen bereit, um den Fahrgästen beizustehen,
- Rauch, Hitze und giftige Verbrennungsprodukte in Brandgasen haben keine Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der Besatzung und der Fahrgäste,
- ein Gruppenverhalten von Familien wird in der Analyse nicht berücksichtigt, und
- Schiffsbewegungen, Krängung und Trimm werden nicht berücksichtigt.
4 Zu betrachtende Szenarien
4.1 Für die Analyse sind mindestens die folgenden vier Szenarien (Fälle 1 bis 4) zu betrachten.
Falls umfangreichere Daten zur Berücksichtigung der Verteilung der Besatzung verfügbar sind, dürfen sie genutzt werden.
- Fall 1 (Primär-Evakuierungsfall, Nacht) und Fall 2 (Primär-Evakuierungsfall, Tag) entsprechend Kapitel 13 des Codes für Brandsicherheitssysteme.
- Fall 3 (Sekundär-Evakuierungsfälle, Nacht) und Fall 4 (Sekundär-Evakuierungsfälle, Tag). In diesen Fällen wird nur der senkrechte Hauptbrandabschnitt einer weiteren Betrachtung unterzogen, der die längste individuelle Musterungszeitspanne verursacht.
Bei diesen Fällen wird die gleiche Populationsdemografie wie bei den Primär-Evakuierungsfällen verwendet.
Bei den Fällen 3 und 4 sind beide nachfolgend aufgeführten Alternativen zu betrachten.
Für Ro-Ro-Fahrgastschiffe ist die Alternative 1 zu bevorzugen:
- Alternative 1: Ein vollständig durchgehender Treppenaufgang mit der größten Treppenkapazität, die vorher in dem betrachteten senkrechten Hauptbrandabschnitt verwendet worden ist, wird als nicht verfügbar für die Simulation angesehen, oder
- Alternative 2: 50 v. H. der Personen in einem der senkrechten Hauptbrandabschnitte, der sich benachbart zum betrachteten senkrechten Hauptbrandabschnitt befindet, sind gezwungen, sich in diesen Abschnitt zu begeben und zum entsprechenden Sammelplatz weiterzugehen.
Der benachbarte Abschnitt mit der größten Belegung ist auszuwählen.
4.2 Gegebenenfalls können die folgenden zusätzlichen Szenarien betrachtet werden:
- Fall 5 (freies Deck): Falls ein freies Deck für eine Nutzung durch Fahrgäste eingerichtet ist und eine Bruttofläche von mehr als 400 m2 hat oder mehr als 200 Personen Platz bietet, muss der folgende zusätzliche Tagfall untersucht werden:
Alle Personen sind so zu verteilen, wie für den Primär-Evakuierungsfall, Tag (Fall 2) vorgegeben, wobei das freie Deck als ein zusätzlicher Gesellschaftsraum mit einer Anfangsdichte von 0,5 Personen/m2 bezogen auf die Bruttofläche des Decks betrachtet wird.
- Fall 6 (Einbootung): Falls Einbootungsstationen und Sammelplätze räumlich getrennt sind, muss bei der Bestimmung der Einbootungs- und Aussetzzeitspanne (E + L) eine Analyse der Laufzeitspanne vom Sammelplatz zum Einstiegspunkt des Rettungsmittels berücksichtigt werden.
Alle Personen, für deren Beförderung das Schiff zertifiziert ist, sind anfänglich entsprechend dem ausgewiesenen Aufnahmevermögen der Sammelplätze verteilt.
Die Personen bewegen sich gemäß den Verfahren des Betreibers und auf den festgelegten Wegen zum Einstiegspunkt des Rettungsmittels.
Die für das Besteigen des Rettungsmittels benötigte Zeit wird im Verlauf der Typerprobung des Rettungsmittels bestimmt und braucht deshalb bei der Simulation nicht im Einzelnen behandelt zu werden.
Jedoch muss eine Staubildung unmittelbar vor dem Rettungsmittel als Teil der Simulation berücksichtigt werden.
Diese Staus müssen als Blockade oder Hindernis für passierende Fahrgäste oder Besatzungsmitglieder betrachtet werden, das heißt mit einer Flussrate für das Besteigen des Rettungsmittels erzeugt werden, die der während der Erprobung des Rettungsmittels beobachteten entspricht.
4.3 Für den Fall, dass die in den vorstehenden Fällen angegebene berechnete Gesamtanzahl der Personen an Bord größer ist als die höchstzulässige Personenanzahl, für deren Beförderung das Schiff zertifiziert ist, ist die Anfangsverteilung der Personen so zu reduzieren, dass die Gesamtanzahl der Personen der höchstzulässigen Personenanzahl des Schiffes entspricht.
5 Leistungsanforderungen
5.1 Die folgenden Leistungsanforderungen, wie in Abbildung 5.1 dargestellt, sind zu erfüllen:
Berechnete Gesamt-Evakuierungszeitspanne:
1,25 (R + T) + 2/3 (E+L) < n | (1) |
(E + L) < 30 min | (2) |
5.2 In Leistungsanforderung (1) ist:
- bei Ro-Ro-Fahrgastschiffen, n = 60 und
- bei Fahrgastschiffen, die keine Ro-Ro-Fahrgastschiffe sind, n = 60, wenn das Schiff bis zu drei senkrechte Hauptbrandabschnitte hat, und n = 80, wenn das Schiff mehr als drei senkrechte Hauptbrandabschnitte hat.
5.3 Leistungsanforderung (2) stimmt mit Regel III/21.1.3 SOLAS überein.
Abbildung 5.1
(1) gemäß der ausführlichen Spezifikation der Analysemethode
(2) berechnet entsprechend den Anlagen dieser Richtlinien
(3) maximal 30 min in Übereinstimmung mit Regel III/21.1.3 SOLAS
(4) Überlappungszeitspanne = 1/3 (E + L)
(5) Werte von n (min) entsprechend Absatz 5.2
5.4 E + L sind auf folgenden Grundlagen getrennt zu berechnen
- Ergebnisse von Großversuchen mit vergleichbaren Schiffen und Evakuierungssystemen,
- Ergebnisse einer Einbootungsanalyse auf Grundlage einer Simulation, oder
- von den Herstellern zur Verfügung gestellte Daten.
In diesem Fall ist jedoch die Berechnungsmethode einschließlich des Wertes des verwendeten Sicherheitsfaktors zu dokumentieren.
Die Einbootungs- und Aussetzzeitspanne (E + L) muss klar dokumentiert werden, um im Falle einer Änderung von Rettungsmitteln verfügbar zu sein.
5.5 In Fällen, in denen keine der drei vorstehenden Methoden angewendet werden kann, ist E + L mit 30 min anzunehmen.
6 Dokumentation
Die Dokumentation der Analyse muss über folgende Einzelheiten Aufschluss geben:
- Grundlegende Annahmen für die Analyse,
- schematische Darstellung der räumlichen Anordnung der Abschnitte, die der Analyse unterworfen worden sind,
- Anfangsverteilung der Personen bei jedem betrachteten Szenarium,
- für die Analyse angewandte Methodik, sofern abweichend von diesen Richtlinien,
- Einzelheiten der Berechnungen,
- Gesamt-Evakuierungszeitspanne,
- erkannte Stellen mit Staubildung, und
- erkannte Bereiche mit gegenläufigen und sich kreuzenden Strömen
7 Korrekturmaßnahmen
7.1 Falls bei neuen Schiffen die berechnete Gesamt-Evakuierungszeitspanne größer ist als die zulässige Gesamt-Evakuierungszeitspanne, sind während der Entwurfsphase Korrekturmaßnahmen durch entsprechende Änderungen der das Evakuierungssystem beeinflussenden Einrichtungen vorzunehmen, um eine akzeptierbare Gesamt-Evakuierungszeitspanne zu erreichen.
7.2 Falls bei vorhandenen Schiffen die berechnete Gesamt-Evakuierungszeitspanne größer ist als die zulässige Gesamt-Evakuierungszeitspanne, sind die Evakuierungsverfahren an Bord im Hinblick auf geeignete Maßnahmen zu überarbeiten, die Staus an den von der Analyse eventuell aufgezeigten Stellen verringern können.
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