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60. Steroidhormone

(BArbBl. 9/1999 S. 72)
Ausgabe: September 1999
(Stand: Mai 1999)


Unter dem Begriff Steroidhormone werden Gruppen von Substanzen zusammengefaßt, die anhand ihrer physiologischen (Haupt-) Wirkung bei Wirbeltieren und insbesondere beim Menschen als Estrogene, Gestagene, Androgene und deren jeweilige Antagonisten sowie als Anabolika und Glucocorticoide bezeichnet werden. Diese biologischen Wirkungen werden in den Zielgeweben eines Organismus (hauptsächlich) über die Bindung an intrazelluläre Proteine, die sog. Steroidhormonrezeptoren, vermittelt. Das gemeinsame strukturelle Bauprinzip all dieser Substanzen ist das Vorhandensein eines steroidalen Grundskeletts, welches als Gonan bzw. Steran bezeichnet wird und aus vier kondensierten Ringen besteht. Durch eine Vielzahl chemischer Varianten dieses steroidalen Grundgerüsts, etwa durch Anfügen von Substituenten und Einfügen von Doppelbindungen, leiten sich die natürlichen und synthetischen Vertreter der o.g. Wirkstoffklassen her.

Bei der Bewertung des reproduktionstoxischen, mutagenen und tumorigenen Potentials eines Steroidhormons ist zu unterscheiden zwischen den möglichen Auswirkungen der physiologischen Effekte auf den Organismus einerseits (klassentypisches Potential) und einem etwaigen spezifischen, nicht mit dem hormonellen Mechanismus zusammenhängenden Potential, reproduktionstoxische, mutagene und/oder tumorigene Wirkungen auszuüben (individuelles Potential). Die jeweiligen Gemeinsamkeiten hinsichtlich physiologischer Wirkungen legen eine nach Wirkstoffgruppen zusammenfassende Betrachtung der Steroidhormone nahe. Diese Gruppeneinteilung bedarf einer erklärenden Vorbemerkung; zu therapeutischen Zwecken eingesetzte Hormone mit Steroidstrukturen haben selten nur eine Wirkungsqualität (z.B. androgen, estrogen, gestagen etc.). Sie verfügen in der Regel über eine besonders ausgeprägte, den Stoff charakterisierende Hauptwirkung und zeigen daneben schwächer ausgeprägte, inhärente weitere Wirkungen. Bei Vor-, und Zwischenstufen sind die endokrinen Wirkungen oft nur schwach ausgeprägt. Diese unterschiedlichen Ausprägungen der spezifischen endokrinen Wirkungen sind sowohl bei der folgenden Gruppeneinteilung als, auch bei der Zuordnung der einzelnen Stoffe berücksichtigt worden. Für die quantitative Risikoabschätzung im Rahmen der Arbeitsplatzsicherheit ist jedoch eine individuelle Bewertung der Einzelsubstanzen unumgänglich.

Eine zusammenfassende Tabelle mit den vorgeschlagenen Einstufungen für die einzelnen Substanzklassen sowie eine Liste der eingestuften Stoffe, geordnet nach Wirkstoffgruppen, finden sich als Anlagen 1 und 2.

Androgene Steroide und Anabolika (Gruppen 1 und 2)

Die androgenen Steroide und Anabolika werden aufgrund von Übereinstimmungen in ihrem Wirkungsprofil (s.u.) der gleichen Einstufung zugeführt und deshalb auch gemeinsam abgehandelt.

Hohe Dosen von androgenen Substanzen führen im Tierexperiment und beim Menschen über eine verminderte Ausschüttung von Gonadotropin zu einer Einschränkung der Hodenfunktion. Bei wiederholter und starker Belastung über längere Zeiträume ist mit einer reversiblen Verminderung oder Unterbrechung der Spermatogenese und in der Folge einer Abnahme der Hodengröße zu rechnen [1].

In Embryotoxizitätsstudien sind nach Behandlung während der sensiblen Phase der Differenzierung fetaler Geschlechtsorgane mit Androgenen Maskulinisierungserscheinungen bei weiblichen Feten aufgetreten. Falls Frauen während der entsprechenden Phase der Schwangerschaft mit solchen Wirkstoffen belastet werden, muß mit dem Risiko einer Vermännlichung weiblicher Nachkommen gerechnet werden. Außerdem zeigen Androgene im Tierversuch eine embryoletale, schwangerschaftsunterbrechende Wirkung [2]. Gleichartige Wirkungen sind vom Menschen allerdings nicht bekannt.

Die anabolen Hormone zeigen eine gewisse, beim Menschen nachgewiesene androgene Aktivität, weshalb grundsätzlich gleichartige Wirkungen wie bei den Androgenen zu erwarten sind. Nach mißbräuchlicher Anwendung durch Sportler wurde über eine Abnahme der Spermienzahl und Hodengröße bzw. über Menstruationsstörungen berichtet [3]. Daher werden Anabolika in Bezug auf reproduktionstoxische Eigenschaften wie Androgene eingestuft, obwohl Unterschiede hinsichtlich der Wirkungsstärke zu erwarten sind.

Zur Frage der Mutagenität von Androgenen bzw. Anabolika liegen nach derzeitiger Kenntnis nur wenig experimentelle Daten vor. Das natürliche Hormon Testosteron wirkte an Bakterien (Salmonella typhimurium) nicht mutagen [4] und induzierte bei der Maus in vivo weder Mikrokerne [5] noch Abnormalitäten der Spermienmorphologie [6].

Für Testosteronproprionat wurden im Tiermodell nach subkutaner Implantation tumorigene Effekte auf den Uterus der Maus sowie die Prostata der Ratte beschrieben [7]. Beim Menschen ist davon auszugehen, daß Androgene das Wachstum vorhandener Prostatatumore fördern können. Außerdem wird aufgrund von Einzelfallbeschreibungen vermutet, daß die längerfristige Einnahme hochdosierter Androgene und Anabolika an der Entstehung von Lebertumoren beteiligt sein kann. Diese Fälle betrafen vor allem (hier nicht zur Einstufung anstehende) 17α-alkylierte Derivate, die auch durch eine erhöhte Inzidenz an Lebertoxizität beim Menschen auffielen [8]. Dagegen ergab der langjährige klinische Einsatz von Injektionspräparaten mit Testosteronpropionat und -enanthat (Testoviron®) bisher keine Anhaltspunkte für eine tumorigene Wirkung beim Menschen [9].

Eine tumorfördernde Wirkung der hier eingestuften Androgene und Anabolika beim Menschen ist demnach allenfalls bei chronischer Stimulation sensitiver endokriner Zielorgane durch kontinuierliche hohe Substanzaufnahme anzunehmen.

Einstufung: C: 3, M: -, RF: 1, RE: 2

Schwach androgene Steroide (Gruppe 3)

Da die betreffenden Substanzen (Prasteronenantat und Androstadiendion) im Tierexperiment nur schwach androgen wirksam sind oder eine androgene Wirkung nur vermutet wird, wird sowohl hinsichtlich der Beeinträchtigung der Fortpflanzungsfähigkeit als auch der fruchtschädigenden Wirkung die Kategorie 3 für angemessen gehalten.

Prasteron ist ein schwaches Androgen, das als Zwischenstufe der Sexualhormon-Biosynthese natürlich vorkommt. Seine Wirkung ist ca. 20-fach schwächer als die von Testosteron. Nach versehentlicher Verabreichung des Präparates Gynodian®-Depot (enthält Prasteronenantat als Wirkstoff) während der Schwangerschaft haben sich keine Hinweise auf ein teratogenes Potential ergeben [10]. Weiterhin erscheint das Wirkungsprofil von Androstadiendion, für das eine androgene Wirkung vermutet wird, noch nicht ausreichend geklärt für eine definitive Einstufung, so daß es derselben Kategorie zugeordnet wird.

Die tumorfördernde Wirkung von Androgenen ist nicht direkt an deren pharmakologische Aktivität gekoppelt, sondern erfordert die chronische Stimulation der Proliferation im Zielorgan (z.B. der Prostata). Es gibt z.Z. keinen Anhalt dafür, daß die Wirksamkeit der o.g. Substanzen hierfür ausreicht. Die vorliegenden Hinweise auf eine schwach androgene Wirkung allein werden daher nicht für ausreichend gehalten, um ein für eine Einstufung ausreichendes Verdachtsmoment für eine karzinogene Wirkung zu begründen.

Einstufung: C: -, M: -, RF: 3, RE: 3

Glucocorticoide (Gruppe 5)

Bei ausreichend hoher Exposition können mit Glukokortikoiden in geeigneten Testsystemen im Tierexperiment embryoletale (wie erhöhte Resorptionsraten beim Kaninchen [2, 11] und/oder teratogene Effekte (als sensibelster Indikator teratogener Effekte von Glukokortikoiden gilt die Induktion von Gaumenspalten bei der Maus [2, 11]) induziert werden. Epidemiologische Studien beim Menschen haben bisher keine Hinweise auf embryotoxische oder teratogene Wirkungen durch systemische Glukokortikoid-Therapie ergeben [12, 13). Eine bestehende Schwangerschaft wird deshalb (z.B. bei Asthma-Patientinnen) nicht als Kontraindikation für den Einsatz von Glukokortikoiden angesehen [12, 14, 15]. Nach systemischer Langzeittherapie mit Glucocorticoiden wie Prednison und Beclomethosonproprionat bei schwerem Asthma und anderen chronischen Erkrankungen sind jedoch verminderte Geburtsgewichte (< 2500 g) und Plazentagewichte beschrieben, die als Ausdruck einer reversiblen fötotoxischen Wirkung zu betrachten sind [13, 16]. Dies begründet die Zuordnung zur Kategorie 1 entwicklungsschädigend. Bei längerfristiger Belastung mit Glukokortikoiden kann die Fruchtbarkeit durch negativen Einfluß auf die hypophysärgonadale Achse beeinträchtigt werden [17, 18].

Die vorliegenden Erkenntnisse zur Mutagenität von Glucocorticoiden sind nicht konsistent. Prednison zeigte an Bakterien (Salmonella typhimurium) keine mutagene Wirkung und induzierte am Knochenmark der Ratte in vivo keine Chromosomenaberrationen [19, 20). Zum natürlichen Glucocorticoid Hydrocortison und dem synthetischen Wirkstoff Dexamethason liegen Publikationen einer Arbeitsgruppe vor, die beiden Substanzen ein klastogenes Potential sowohl an Humanlymphozyten in vitro als auch im Mikrokerntest an der Maus in vivo zuschreiben, während die Ergebnisse im Ames-Test negativ waren [21, 22]. Nach unpublizierten Untersuchungen der Schering AG (unter GLP-Bedingungen durchgeführt) wurde das positive Ergebnis für Hydrocortison im Humanlymphozytentest bestätigt, wohingegen das Resultat des Mikrokerntests an der Maus negativ war. Andererseits zeigte der Ames-Test für diese Substanz im Ansatz ohne metabolische Aktivierung ein schwach positives Resultat. Aufgrund dieser Resultate mit Hydrocortison als einem körpereigenen Hormon scheint die Relevanz ähnlicher Ergebnisse mit synthetischen Glucocorticoiden im Hinblick auf die Beurteilung eines mutagenen Potentials beim Menschen eher zweifelhaft zu sein.

Zur Tumorigenität von Glucocorticoiden in Langzeittierexperimenten an Ratten und Mäusen liegen Publikationen mit unterschiedlichen und z.T. widersprüchlichen Resultaten vor. So wurde z.B. in einer Studie nach Gabe von Prednisolon ein Anstieg der Lebertumorrate bei männlichen Ratten gesehen [23], während in anderen Studien mit der gleichen Substanz an weiblichen Ratten [24] oder mit Prednison (einer Vorstufe des aktiven Prednisolons) an männlichen und weiblichen Mäusen [25] kein fördernder Einfluß auf das Tumorgeschehen beobachtet wurde. Die Ergebnisse der Mäusestudie deuteten sogar eher ein tumorhemmendes Potential der Substanz (insbesondere auch auf die Leber) an.

Die Resultate der Mutagenitätsprüfungen sowie die Ergebnisse aus den vorliegenden Tumorigenitätsstudien am Tier liefern keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme eines relevanten tumorigenen Potentials für Glucocorticoide beim Menschen. Voraussetzung für diese Einschätzung ist jedoch, daß der Gesundheitszustand des Menschen insgesamt nicht durch eine unkontrolliert exzessive Wirkstoffaufnahme und eine dadurch bewirkte Immunsuppression stark geschädigt wird.

Einstufung: C: -, M: -, RF: 3, RE: 1

Estrogene Steroide (Gruppe 6)

Estrogene regulieren zusammen mit Gestagenen nahezu alle Vorgänge der Reproduktion bei der Frau. Je nach Zyklusphase und Hormonstatus können sie neben den peripheren Wirkungen am endokrin gesteuerten Erfolgsorgan eine negative oder eine positive Rückkopplungswirkung auf die Gonadotropin-Sekretion ausüben (siehe Wirkungsmechanismus von hormonellen Kontrazeptiva). Daher kann die Belastung von Frauen mit estrogenen Substanzen zu Ovulations- und Zyklusstörungen oder Implantationshemmung führen. Aufgrund der Hemmung der Testosteron-Produktion ist bei exponierten Männern neben einer Gynäkomastie mit einer Spermiogenesehemmung zu rechnen (vgl. die Erfahrungen bei der Behandlung des Prostata-Karzinoms) [26].

Im Tierexperiment bewirken Estrogene eine Erhöhung der pränatalen Mortalität sowie eine Störung der männlichen Sexualdifferenzierung [2, 27, 28, 29]. Die bisher vorliegenden Untersuchungen haben jedoch ergeben, daß z.B. Ethinylestradiol beim Menschen selbst in (gemessen an der therapeutischen Dosis) sehr hoher Dosierung keinen Abort auslöst, und daß seine Einnahme während der Schwangerschaft das Risiko von strukturellen Mißbildungen nicht erhöht [29, 30]. Daher ist bei einer Aufnahme von Estrogenen durch schwangere Frauen das Risiko einer embryoletalen Wirkung sowie das einer Auslösung von Mißbildungen als sehr gering anzusehen. Aufgrund der tierexperimentellen Daten erfolgt die Zuordnung zur Kategorie entwicklungsschädigend, um auf etwaige Risiken bei extrem hoher Substanzbelastung hinzuweisen.

In der Literatur finden sich Hinweise auf genotoxische Effekte von natürlichen und synthetischen Estrogenen bzw. ihrer Metabolite [31, 32, 33]. Da jedoch verschiedene Estrogene nach Prüfung in Standard-Mutagenitätstests wie dem Ames-Test, dem V79/HPRT-Test, dem Chromosomenaberrationstest in Humanlymphozyten in vitro und dem Mikrokerntest in vivo an der Maus kein mutagenes Potential zeigten [34, 35, 36, 37], liegen insgesamt keine überzeugenden Hinweise auf ein mutagenes Potential für die bekannten estrogenen Steroide vor.

Im Tiermodell, insbesondere an Ratten und Mäusen, entfalten steroidale Estrogene einschließlich des natürlichen Hormons 17β -Estradiol eine tumorigene Wirkung an einer Reihe von endokrinen Zielorganen und, im Falle des Ethinylestradiols, auch an der Leber als Stoffwechselorgan [37]. Dies trifft für die Einzelsubstanzen wie auch für Estrogen/Gestagen-Kombinationen zu. Der prädikative Wert der Tiermodelle für den Menschen darf generell hinsichtlich der Sexualsteroide als sehr zweifelhaft gelten, da es tiefgreifende tierartspezifische Unterschiede in der Pharmakokinetik der Wirkstoffe, in der Empfindlichkeit der Zielorgane und in den endokrinen Steuerungsmechanismen gibt [38]. So zeigt z.B. ein Vergleich der endogenen Hormonspiegel, daß sowohl die Nager (Maus und Ratte) als auch der Hund ihren Estruszyklus und die Schwangerschaft auf viel niedrigerem Estradiolniveau regulieren als der Mensch [38]. Daraus resultiert eine erhöhte Empfindlichkeit dieser Tierspezies gegenüber exogenen Estrogenbelastungen, die für den Menschen noch als physiologisch gelten. Bei den Nagern ist außerdem bekannt, daß die Verabreichung von Estrogenen zu einer Stimulation und Proliferation der Prolaktinzellen in den Hypophysen bis zur Entstehung von Hypophysenadenomen führt 1. Die Stimulation der Prolaktinfreisetzung aus der Hypophyse spielt speziell bei Nagern eine wesentliche permissive Rolle für den wachstumsstimulierenden Effekt von Estrogenen und Gestagenen auf das Brustdrüsengewebe bis hin zur Tumorentstehung [38, 40].

Beim Menschen führt die Langzeitanwendung von Estrogenen bei postmenopausalen Frauen in der Hormonersatztherapie zu einem erhöhten Risiko der Entstehung von Gebärmutterkrebs [41]. Dieser Effekt ist biologisch plausibel, da in der Menopause die Bildung von endogenen Gestagenen in den Eierstöcken praktisch erlischt, und das verabreichte Estrogen ohne die Gegenwirkung eines Gestagens einen ständig wirksamen Wachstumsstimulus auf die Gebärmutterschleimhaut ausübt. Durch die zusätzliche Gabe von Gestagenen kann das endokrine Gleichgewicht in diesem Gewebe wieder hergestellt werden.

Weniger eindeutig ist hingegen die Rolle von Estrogenen bzw. von Estrogen/Gestagenkombinationen hinsichtlich eines möglichen Einflusses auf das Tumorgeschehen in anderen Zielorganen, wobei vor allem der Brustkrebs aufgrund seiner hohen Inzidenz bei Frauen aus den westlichen Industrienationen im Vordergrund der Untersuchungen steht. Es sind daher eine Vielzahl epidemiologischer Untersuchungen zum Einfluß der weiblichen Steroidhormone auf das Brustkrebsrisiko im Rahmen der Anwendung zur Empfängnisverhütung oder zur Hormonersatztherapie durchgeführt worden. Die Resultate in der älteren Literatur sind widersprüchlich [41, 42, 43]. Eine 1997 publizierte Meta-Analyse von 51 epidemiologischen Studien ergab, daß Frauen, die Estrogene zur Hormonersatztherapie länger als fünf Jahre anwenden, einem erhöhten Brustkrebsrisiko unterliegen [44] Dieser Befund kann auf den biologischen Effekten dieser Hormone, einer früheren Diagnose oder einer Kombination beider Faktoren beruhen. Das relative Risiko steigt mit der Dauer der Behandlung (um ca. 2,3 % pro Jahr der Anwendung). Dies ist vergleichbar mit dem Effekt, den die Verzögerung der Menopause auf den Brustkrebs hat. Der Krebs erwies sich bei Anwenderinnen der Hormonersatztherapie als klinisch weniger fortgeschritten als bei Nicht-Anwenderinnen. Das Risiko verringerte sich nach Absetzen der Behandlung und war nach ca. fünf Jahren weitgehend normalisiert.

Unter Berücksichtigung des o. g. Standes der Kenntnis kann also davon ausgegangen werden, daß für den Kontakt mit Estrogenen beim Menschen kein tumorigenes Risiko besteht, solange die Aufnahme in einem noch als physiologisch anzusehenden Dosisbereich erfolgt und das innere hormonelle Gleichgewicht des Exponierten nicht erheblich gestört wird. Ein Einfluß auf das Tumorrisiko kann aber vorliegen, sofern hormonsensitive Gewebe und vorhandene hormonsensitive Tumore durch die wiederholte Zufuhr von Estrogenen besonders nach hohen Dosierungen in ihrem Wachstum stimuliert werden.

Einstufung: C: 3, M: -, RF: 1, RE: 3

Gestagene Steroide (Gruppe 7)

Die Stoffklasse der Gestagene umfaßt Substanzen, die ähnliche Eigenschaften wie das physiologische Gelbkörperhormon Progesteron sowie ein unterschiedliches Spektrum weiterer Partialwirkungen haben. Gestagene hemmen das Hypothalamus-Hypophysen-System und beeinflussen die Genitalorgane. Sie wirken ovulationshemmend und beeinflussen das Cervicalsekret, so daß es für Spermatozoen schwer oder nicht penetrierbar ist [45, 46]. Bei Männern ist mit einer Hemmung der Spermatogenese zu rechnen. Entsprechend diesen Ausführungen können bei exponierten Männern und Frauen reversible Fertilitätsstörungen auftreten.

Bei erheblicher Exposition Schwangerer gegenüber Gestagenen mit starker androgener Partialwirkung ist aufgrund der Ergebnisse von Tierversuchen mit dem Risiko einer Maskulinisierung weiblicher Nachkommen zu rechnen. Das ist bei dem natürlichen Hormon Progesteron, den von ihm abgeleiteten Verbindungen Hydroxyprogesteron und Medroxyprogesteron sowie deren Estern nicht der Fall. Bei Gestagenen mit antiandrogener Partialwirkung ist mit der Feminisierung der männlichen Nachkommen zu rechnen.

Darüber hinaus wirken Gestagene im Tierversuch bei höheren Dosierungen embryoletal. Gleichartige Effekte sind vom Menschen nicht bekannt.

Genotoxische Effekte von diversen synthetischen Gestagenen wurden wiederholt publiziert [47, 48, 49]. Jedoch liegen für strukturell sehr unterschiedliche Vertreter dieser Steroidhormonklasse Ergebnisse aus Standard-Mutagenitätstests wie dem Ames-Test, dem V79/HPRT-Test, dem Chromosomenaberrationstest in Humanlymphozyten in vitro und dem Mikrokerntest an der Maus in vivo vor, die kein mutagenes Potential zeigten [34, 35]. Somit liegen bisher keine überzeugenden Hinweise für ein relevantes mutagenes Potential der hier beurteilten Gestagene vor.

Bei der Prüfung auf Tumorigenität im Tierversuch wurden bei Ratten, Mäusen und Hunden tumorigene Wirkungen der Gestagene an einer Reihe von endokrinen Zielorganen und an der Leber als Stoffwechselorgan beobachtet [37]. Der prädiktive Wert dieser Tiermodelle für den Menschen ist auch im Bereich der Gestagene wegen der tiefgreifenden tierartspezifischen Unterschiede in der Pharmakokinetik der Wirkstoffe, in der Empfindlichkeit der Zielorgane und in den endokrinen Steuerungsmechanismen als sehr gering anzusehen [38]. Beim Hund gibt es z.B. einen positiven Rückkoppelungsmechanismus zwischen Gestagenen und Wachstumshormon. Gestagene stimulieren beim Hund die Bildung von Wachstumshormon in der Hypophyse, welches seinerseits den wichtigsten Stimulus für das Brustdrüsenwachstum und somit die Bildung von Brusttumoren bei dieser Tierart darstellt [38, 50] 2. Dieser Mechanismus hat für den Menschen keine Bedeutung.

Die mögliche Rolle von Gestagenen bei der Tumorentstehung beim Menschen wird in der Regel im Zusammenhang mit der Anwendung in Kombinationspräparaten (mit Estrogenen) diskutiert. Auch hier steht vor allem der Einfluß auf den Brustkrebs aufgrund seiner hohen Inzidenz bei Frauen aus den westlichen Industrienationen im Vordergrund der Untersuchungen. Wie schon unter den Estrogenen beschrieben, sind die Resultate der epidemiologischen Untersuchungen widersprüchlich und die Einschätzung der Krebsrisiken trotz der jahrzehntelangen Erfahrung aus der weitverbreiteten Anwendung von Sexualsteroiden zur Empfängnisverhütung und in der Hormonersatztherapie in der Fachwelt umstritten [42, 43, 44].

Analog zur Schlußfolgerung für den Umgang mit Estrogenen läßt sich auch für die Substanzklasse der Gestagene feststellen, daß für den Kontakt mit diesen Wirksubstanzen kein tumorigenes Risiko besteht, solange die Aufnahme in einem noch als physiologisch anzusehenden Dosisbereich erfolgt und das innere hormonelle Gleichgewicht des Exponierten nicht erheblich gestört wird. Ein Einfluß auf das Tumorrisiko kann aber auch hier vorliegen, sofern hormonsensitive Gewebe und vorhandene hormonsensitive Tumore durch die wiederholte Zufuhr von Gestagenen besonders nach hohen Dosierungen in ihrem Wachstum stimuliert werden.

Einstufung: C: 3, M: -, RF: 1, RE: 2

Schwach gestagene/estrogene Steroide (Gruppe 8)

Die Substanzen weisen eine schwach gestagene und/oder eine schwach estrogene Wirkung auf. Deshalb könnten bei hoher Exposition möglicherweise endokrin-pharmakologische Wirkungen (z.B. Störungen der Sexualfunktion und Feminisierungserscheinungen beim Mann, Zyklusstörungen bei der Frau) auftreten. Beim Kontakt schwangerer Frauen mit diesen Substanzen erscheinen allenfalls bei extrem hoher Belastung embryoletale Wirkungen sowie das Auftreten von Mißbildungen grundsätzlich möglich.

Wie die Ausführungen zu eindeutig estrogenen und gestagenen Steroiden (Gruppen Nr. 6 und 7) zeigen, ist bei diesen eine Wachstumsstimulation hormonsensitiver Gewebe mit dem Endpunkt Tumor allenfalls bei Zufuhr hoher Dosierungen oberhalb der Schwelle für die endokrin-pharmakologische Wirkung anzunehmen. Es gibt z.Z. keine Anhaltspunkte dafür, daß die Wirksamkeit der Steroide der o.g. Gruppe hierzu ausreicht. Die begrenzten Informationen zur Charakterisierung dieser Substanzen erfordern somit keine Einstufung hinsichtlich krebserzeugender Wirkung.

Einstufung: C: -, M: -, RF: 3, RE: 3

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1) Solche Hypophysentumore können im Rahmen von Tumorigenitätsstudien mit Estrogenen und Estrogen/Gestagenkombinationen an Nagern zu einer vorzeitig erhöhten Sterblichkeit führen. Diese erhöhte Sterblichkeit wird in den amerikanischen Prüfrichtlinien, obwohl sumorbedingt, als ein wesentlicher "Störfaktor" beim Auffinden von möglichen relevanteren, d. h. von nicht pharmakologisch bedingten, Tumoren beschrieben [39].

2) Diese tumorigene Wirkung auf das Brustdrüsengewebe heim Hund hat dazu geführt, daß die FDA in den sechziger Jahren das Gestagen Medroxyprogesteronacetat nicht für die Anwendung beim Menschen zugelassen hat. Inzwischen hat jedoch die FDA den fehlenden prädiktiven Wert dieser Tumorbefunde am Hund erkannt und dieser Erkenntnis letztlich dadurch Rechnung getragen, daß Tumorigenitätsstudien mit Kontrazeptiva an dieser Tierart seit 1992 nicht mehr gefordert werden [39].

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